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Hans Gruber steht ohne Zweifel an der Seite von eingesperrten Menschen, egal, aus welchen Gründen sie im Gefängnis gelandet sind. Aus der Erfahrung von 50 Jahren als Gefangenenseelsorger kann er von unzähligen Begegnungen erzählen. Und er tut es auch, in seinem soeben erschienenen Buch „Beinahe lebenslänglich“. Der „Häfenpfarrer“ Hans Gruber hat Trauer und Verzweiflung bei den Inhaftierten erlebt, Lüge und Verrat. Vor allem im Drogenmilieu gibt es kaum Einzeltäter, sondern Gruppen. „Da werden Kollegen verraten, um sich selber reinzuwaschen“, sagt Hans Gruber. Aber er hat auch Bekehrungen erlebt, Herzlichkeit und kleine Wunder. Wie bei dem Mann, der mit 16 Jahren zum ersten Mal eingesperrt wurde, 20 Jahre lang „Häfenerfahrung“ machte und den Hans Gruber zeitweilig in seine Wohnung aufgenommen hat. „Er hat sich derfangen“, sagt Hans Gruber, „heute ist er Masseur.“
Im Oktober 1968 trat Hans Gruber seinen Dienst als Seelsorger in der heutigen Jusitzanstalt Linz an. Geprägt von der Stimmung des Aufbruchs auch in der katholischen Kirche wollte er im Gottesdienst den Haftinsassen „fortschrittlich“ gegenübertreten. Er verzichtete auf das alte Messgewand – und wurde prompt von den Gefangenen kritisiert: ‚Wir sind es ihm nicht wert, dass er sich feierlich anzieht!‘ Neben dem wöchentlichen Gottesdienst ist der Arbeitsalltag bis heute von der Zusammenarbeit mit dem Wachpersonal, von Gruppen- und Einzelgesprächen mit Häftlingen und der Beichte geprägt. Wobei diese gerne für andere Formen der Kommunikation genutzt wird. „Ich war oft eine Projektionsfläche für ihre Verteidigungsrede“, sagt Hans Gruber. „Sie dachten, wenn ich ihre Lügengeschichte glaube, vielleicht schluckt sie dann auch der Richter.“
Die Gefangenenseelsorge muss an Jesus Maß nehmen. Das schreibt Hans Gruber in seinem Buch und zitiert aus dem Neuen Testament: „… ich war gefangen und ihr habt mich besucht …“ (Mt 25,46). Ab 1978 leitete er die neu eingerichtete Koordinationsstelle für Gefangenenpastoral in der Diözese Linz. Seitdem wurde kontinuierlich an der Professionalisierung der Gefangenenseelsorge gearbeitet, trotz immer noch bestehender Hürden, was die finanzielle Ausstattung und die zugestandene Bedeutung innerhalb der Diözese anbelangte.
Das Buch bietet auch einen Überblick über die Geschichte der Freiheitsstrafe. Mit Verweis auf die Zahlen der Untersuchungs- und Strafgefangenen von 1970 bis heute stellt Hans Gruber eine wahre „Einsperrlust der Österreicher“ fest. Im Jahr 1970 waren in den Niederlanden pro 100.000 Einwohner 25 Personen eingesperrt – in Österreich 120. 2019 waren 9.500 Menschen inhaftiert, das sind immer noch zirka 107 pro 100.000 Einwohner. Die Zahlen stiegen an oder fielen, je nachdem, wer gerade Justizminister oder -ministerin war. Für eine „populistische Meinungsmache“ sei das Thema immer gut, so Hans Gruber mit Seitenblick auf die Strafverschärfungen der letzten Regierung.
Das Leben in der Justizanstalt, ein Haus voller Verwünschungen und voller Sehnsüchte, verändert die Menschen, auch den Gefangenenseelsorger: „Dieses Haus verlässt niemand unberührt."
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