KOMMENTAR_
Ich stamme vom nordseitigen Fenster eines Bauernhofes. Schon meine Elternpflanze hat also ein recht genügsames Leben geführt. Mein heutiger Eigentümer hat mich als Blatt von diesem Stock in sein Studentenzimmer mitgenommen und eingepflanzt – vor 45 Jahren. Auch eigene Blätter wurden gelegentlich abgezweigt und weitergepflegt zu neuen Pflanzen. Alle Übersiedlungen meines Eigentümers habe ich mitgemacht. Ich bin keine, die ständig nach Aufmerksamkeit heischt, es macht mir nichts aus, wenn ich oft wochenlang unbeachtet bleibe und wenn mich – besonders im Winter – Spinnen mit meinen Nachbarinnen verweben. Meine Blüten sind schön, aber doch unscheinbar. Niemand nimmt sie mir weg. Alles, wovon ich lebe, befindet sich im Topf, in den ich gepflanzt bin – gelegentlich Wasser, Luft und Licht. Nur selten bekomme ich etwas frische Erde. Ich bin also Nahversorgerin und lebe nachhaltig – von dem nämlich, was mich umgibt. Es ist nicht die schlechteste Lebensart. Generationen anderer Pflanzen habe ich kommen und gehen sehen: anspruchsvoll, aber kurzlebig. Ich, die man beim Gießen oft übersieht, bin mit Abstand die Älteste. Was ich also raten kann: Einfach leben – das genügt.
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