Wort zum Sonntag
Vor mehr als einem halben Jahrhundert schrieb Gustavo Gutierrez das Buch "Theologie der Befreiung". Weltweit sorgte er damit für Aufsehen. Jetzt ist der berühmte peruanische "Kleine-Leute-Priester" und Mitbegründer der Befreiungstheologie tot. Er starb am Dienstag im Alter von 96 Jahren, wie die Dominikaner in Peru am Mittwoch auf Facebook mitteilten.
Sein 1971 erschienenes Buch "Teologia de la Liberacion" steht für das Ende des kirchlichen Einbahnstraßenverkehrs zwischen Europa und dem Rest der christlich geprägten Welt. Denn erstmals entfaltete sich ein Austausch; gegenseitige Entwicklungshilfe geschah - weil vor Ort eine eigenständige Praxis und Theologie entstanden war.
In ihrem Mittelpunkt steht die "Option für die Armen". Neu dabei war, dass sich der christliche Glaube mit diesem Ansatz im Hier und Jetzt verwurzelt, orientiert an den Armen, den Opfern der Systeme - egal, ob rechts- oder linksdiktatorisch oder oligarchisch ausgerichtet. Im Vordergrund steht nicht ein abstraktes religiöses Lehr- und Ideengebäude, sondern das Bemühen der einfachen Menschen vor Ort, ihr Leben im Sinne des Evangeliums zu deuten.
Gutierrez' persönlicher Lebensweg nach der Schule begann in Europa: Er studierte in Lyon, Löwen, Rom und Paris Medizin, Kunst, Philosophie, Psychologie - und dann auch Theologie, weil erst allmählich der Wunsch in ihm gereift war, Priester zu werden. Dominikaner war er erst seit 1999. Der Eintritt in den Orden hat mit den Problemen zu tun, die ihm der frühere Erzbischof von Lima bereitete, der erzkonservative Kardinal Juan Luis Cipriani Thorne vom Opus Dei. Für Gutierrez war klar: lieber Schutz durch einen Orden, als weiter Cipriani ausgeliefert zu sein.
Trotz vieler Gastprofessuren und rund zwei Dutzend Ehrendoktortiteln weltweit, darunter die Unis in Tübingen und Freiburg: Immer wieder kehrte Gutierrez in seine Heimatstadt Lima zurück, lebte in den Armenvierteln, was seinem bescheidenen Lebensstil entsprach und wo er sich zu Hause fühlte. Seine wissenschaftliche Arbeit ging mit der Nähe zur Basis einher. So viel er forschte, so gern war er bei den Menschen in den Slums. Für ihn kommt Theologie "aus dem Herzen der Kirche", muss zugleich aber immer auch eine "Antwort auf gesellschaftliche Wirklichkeit" sein.
Der theologisch-wissenschaftliche Ansatz des Peruaners war, die Lage der Armen und Ausgegrenzten ebenso wie die kirchliche Praxis "realitäts- und evangeliumsgemäß zu reflektieren". Dazu gehörte die Verarmung weiter Teile der Bevölkerung Lateinamerikas. Gutierrez beschäftigte sich früh mit dem Problem: "Wie den Armen sagen 'Gott liebt Euch'? Das ist für unsere heutige Welt die bedeutendste Frage. Unmöglich, sie zu beantworten. Aber zur Antwort gehört, mit den Armen zu leben, einer von ihnen zu werden."
Gutierrez konnte auch zu eigenen Fehlern stehen. Knapp 20 Jahre nach Erscheinen seiner "Theologie der Befreiung", die in konservativen Kreisen unter Marxismusverdacht stand, hatte er die Größe, eine neue, teils "revidierte und korrigierte" Fassung dieses Stücks theologischer Weltliteratur zu veröffentlichen. Die Glaubenskongregation in Rom arbeitete sich an seinem Werk lange, aber am Ende ergebnisfrei ab. Nicht zuletzt, weil der frühere Chef der Vatikanbehörde, der deutsche Kardinal Gerhard Ludwig Müller, Gutierrez' Arbeit an der Basis sehr schätzte und sich in Rom für ihn starkmachte.
Was die Wirkungsgeschichte angeht, war der ausgesprochen klein gewachsene Mann mit dem markanten, oft lächelnden Gesicht ein Großer. Vieles, was in den vergangenen Jahrzehnten theologisch gedacht und gelehrt wurde, wurzelt in seinem systematischen Denken. Im deutschsprachigen Raum waren es etwa die Politische Theologie von Johann Baptist Metz (Münster) und die Theologie der Hoffnung von Jürgen Moltmann (Tübingen), die mit Gutierrez verbunden waren.
Sein Werk für die Geschichte hat er schon geschrieben. Zuletzt wurde Gutierrez im Alltag versorgt und begleitet von Freunden in einer Basisgemeinde in Lima. Die Dominikaner teilten jetzt auf Facebook mit, dass der Theologe im Kapitelsaal ihres Klosters Santo Domingo in Lima beigesetzt werden sollen.
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