Wort zum Sonntag
Sie haben als Priester jahrelang eine kirchliche Beratungsstelle geleitet. Haben Sie dabei die oftmals beschriebene Kluft zwischen katholischer Sexualmoral und Lebenswirklichkeit gespürt?
Joachim Reich: Das war ein Dauerthema. Ich gebe ein Beispiel aus der Praxis: Eine 25-jährige Mutter mit zwei kleinen Kindern wird von ihrem Mann, mit dem sie kirchlich verheiratet ist, verlassen, weil er eine Freundin hat. Nach kirchlicher Lehre müsste die Frau bis zum Tod ihres Mannes beziehungslos und vor allem ohne Sex bleiben.
Sie hatte aber einen Freund gefunden, den auch die Kinder ganz toll fanden. Nach reiner kirchlicher Lehre hätte man beraten sollen, dass sie sich von diesem Lebensgefährten trennen muss, weil sie ja immer noch verheiratet und die Ehe unauflöslich ist. Das verdeutlicht, dass die Lebenswirklichkeit der Menschen sehr weit weg ist von der kirchlichen Norm.
Haben Sie Ihre Klient/innen auf die kirchliche Lehre hingewiesen?
Reich: Die Beratungsstellen beraten nach professionellen, psychotherapeutischen Standards. Da stehen die Ratsuchenden im Vordergrund und ihr Anliegen und ich stülpe niemandem ungefragt ein Moralkonzept über. Ich kenne auch niemanden von den Kolleginnen und Kollegen, die mit dem Katechismus unter dem Arm und der Dogmatik auf dem Tisch beraten hätten. Dann wären viele Gespräche innerhalb von drei, vier Minuten beendet gewesen. Um in dem Beispiel der eingangs erwähnten Frau zu bleiben: Da hätte man nur sagen können, dass sie sich von dem neuen Freund trennen muss und warten, bis der angetraute Mann zurückkommt oder verstirbt. Das hat mit Christentum, wie ich es verstehe, nicht mehr viel zu tun.
Eine Online-Umfrage des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) unter 10.000 jungen Katholik/innen hat 2013 ergeben, dass für 90 Prozent der Befragten die Sexualmoral kaum eine Rolle spielt. Sollte die katholische Kirche deshalb auf Ratschläge verzichten?
Reich: Das glaube ich nicht, weil man erwartet sich ja von der katholischen Kirche, dass sie Weisung und Orientierung gibt. Was ich vermisse, ist das Interesse, sich auf wissenschaftlichen Stand zu bringen, was eigentlich Sache ist. Man kann aber nicht als „Moralagentur der Welt“ solch hohe Standards setzen wollen, ohne in eine Art von Dialog zu treten mit dem, was Sexualwissenschaft, Medizin und Theologie an Erkenntnissen gewonnen haben. Auch die eigenen Theologen können ja zu Rate gezogen werden. Es gibt in der Bibelexegese zum Beispiel ausreichend Hinweise, dass die vermeintliche Verurteilung von Homosexualität in der Bibel in den betreffenden Stellen anders ausgelegt werden müsste.
Ich picke mal ein Thema aus der Morallehre heraus: Das Gebot, keinen Sex vor der Ehe zu haben. Kann das aus sexualwissenschaftlicher Sicht ein sinnvoller Weg sein?
Reich: Wenn Sie einen Sexualtherapeuten fragen: Nein. Sexualität muss man lernen. Wenn die Lernerfahrung nicht da war, kann das in den Hochzeitsnächten die totale Katastrophe sein. Das ist mir in meiner Beratungspraxis öfters untergekommen.
Ein Argument für das Gebot, keinen Sex vor der Ehe zu haben, ist, dass das vor emotionalen Verletzungen schützt
Reich: Das Leben ist voll von emotionalen Verletzungen, davor kann man sich sowieso nicht schützen. Dann habe ich diese emotionale Verletzung in der Hochzeitsnacht. Wenn es gut läuft, kann man sagen, beide Partner sind auf dem Weg und gemeinsam lernt man die Sexualität kennen, aber dass das immer vor emotionalen Verletzungen schützt, glaube ich auch nicht. Dann muss man sich auch miteinander auseinandersetzen. Prophylaktisch auf Sex zu verzichten, weil es gegebenenfalls zu Missverständnissen und seelischen Überforderungen kommt, finde ich ein bisschen skurril.
Aktuell beraten Sie in Ihrer Praxis vor allem Männer, unter anderem auch Klienten, die sich über ihre sexuelle Orientierung nicht klar sind. Wenn es nach der katholischen Lehre geht, müsste man den Männern sagen: Wenn ihr homosexuell seid, ist das okay, aber bitte lebt eure Sexualität nicht aus?
Reich: Stimmt, nach katholischer Lehre ist es nicht sündhaft, homosexuell zu sein, was ja schon ein Fortschritt ist. Die praktizierte Sexualität ist quasi die problematische Seite. Das heißt, dass homosexuelle Personen zölibatär leben müssten, auch wenn man ihnen zugesteht, dass sie in einer „partnerschaftlichen Freundschaft“ leben können. Man muss sich das unter heterosexuellen Paaren vorstellen: Man kann mit der Frau, die man unheimlich liebt, zusammenleben, aber Sex haben darf man nicht und zwar bis zum Lebensende. Ich wüsste nicht, wem man das anraten würde, aber genau das wird von den gleichgeschlechtlichen Partnern erwartet.
Steht diese Problematik in Zusammenhang damit, dass der Eindruck entsteht, der Katechismus reduziere Sex auf den Zeugungsakt?
Reich: Nein, das macht er nicht mehr seit dem 2. Vatikanum. Dabei hat man die Zeugung um die Intimität ergänzt, die die Partner sich gegenseitig schenken und miteinander erleben dürfen. Das ist ein großer Fortschritt, aber sexuelle Intimität ohne die Offenheit für Nachkommenschaft ist laut Katechismus immer noch ungeordnet und schwer sündhaft. Im Prinzip ist es nur legitim, Sexualität im Rahmen einer sakramental geschlossenen Ehe zwischen Mann und Frau zu haben, wenn potenziell die Zeugung von Nachkommenschaft möglich ist. Jeder nicht verheiratete Mensch hat laut kirchlicher Doktrin zölibatär, korrekter gesagt „keusch“, zu leben. Für homosexuelle Menschen werden insofern die gleichen Kriterien angelegt wie bei den heterosexuellen. Bei denen geht man davon aus, dass die Sexlosigkeit zeitlich befristet ist bis sie in den Hafen der Ehe einlaufen. Bei gleichgeschlechtlich liebenden Menschen bleibt die kirchliche Keuschheitsforderung lebenslang in Kraft.
Ein Aspekt der katholischen Sexualmoral, der im Gegensatz zu anderen Punkten stärker auf Zustimmung trifft, ist die Verpflichtung zur Treue. Wäre das ein Ansatzpunkt, auf dem eine überarbeitete Sexualmoral aufbauen könnte?
Reich: Ja, denn die Treue, die Gott – was viele Bibelstellen belegen – zu uns zeigt, soll sich auch in der Beziehung zwischen Menschen abbilden. Der zweite Punkt für eine Weiterentwicklung ist die Fruchtbarkeit, die man auch als Kreativität bezeichnen könnte. Was mich stört, ist, dass die Kirche derzeit Kreativität in einer Partnerschaft nur auf das Zeugen von Nachkommenschaft reduziert. Man kann Kreativität aber auch in gleichgeschlechtlichen Beziehungen leben. Es gibt da auch Möglichkeiten, anders für andere und die Gesellschaft kreativ zu sein.
Und es muss eine Theologie des Scheiterns geben: zu sehen und anzuerkennen, dass menschliche Lebensentwürfe auch scheitern können, die theologische und spirituelle Reflexion darüber kommt mir zu kurz.
Ein Gegenargument zu möglichen Veränderungen lautet: Wenn die Sexualmoral weiterentwickelt wird, ist einfach alles erlaubt
Reich: Jetzt ist es so, dass es eine Sexualmoral gibt, an die sich keiner hält. Da könnte man eher sagen, die Kirche verursacht eine Art von Anomalie, weil sie Standards setzt, die so weit weg sind für 80, 90 Prozent der Gläubigen, dass sie in eine Art von „Morallosigkeit“gedrängt werden.
Wenn ich als Kirche sage, mich interessiert wirklich, was die Erkenntnisse der Wissenschaft sind, und ich setze mich damit auseinander und muss Korrekturen in meiner Sexualmoral vornehmen, ist das viel ehrlicher und glaubwürdiger. Es würde orientierungsstiftender für Gläubige sein als wenn die Kirche sich einfach hinter moralischen Mauern verbarrikadiert. Ich finde wichtig, dass diese extreme Angst vor Sexualität endlich ein Ende hat.
Zur Person
Joachim Reich ist Theologe und Sexualtherapeut.
Er war über 20 Jahre Dominikaner und wurde 1999 zum Priester geweiht.
Reich war unter anderem mehrere Jahre als Gemeindepfarrer in Berlin und Leipzig tätig und später bis 2014 Leiter einer kirchlichen psychologischen Lebensberatungsstelle in Berlin. Er hat zudem viele Menschen beraten, die sich für die zölibatäre Lebensweise entschieden haben. Inzwischen ist er zur Anglikanischen Kirche übergetreten und lebt und arbeitet in Berlin als Therapeut in eigener Praxis und als Gemeindeseelsorger an der Anglikanischen Gemeinde zu Berlin.
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