Wort zum Sonntag
Wie ist es Ihnen vor zehn Jahren ergangen, als Sie die Schilderungen der ehemaligen Schüler hörten?
Klaus Mertes: Ich war erschüttert über die für mich glaubwürdigen Aussagen. Insbesondere hatte ich mir bis dahin die Relation, dass allein bei einem Täter bis zu 100 Opfer zu vermuten waren, nicht vorstellen können. Mir ist damals klar geworden, dass Missbrauch in erster Linie keine spontane Handlung von Männern ist, die sich nicht beherrschen können, sondern dass es sich um systematisch geplante Taten handelt.
Hatten Sie persönlich bereits davor gemerkt, dass an der Schule etwas nicht in Ordnung ist?
Mertes: Als ich Mitte der 90er Jahre ans Canisius-Kolleg kam, gab es Gerüchte, die oft unter den Stichworten Homosexualität oder schwarze Pädagogik liefen; es hat auch zwei Einzelmeldungen im Hinblick auf Übergriffe gegeben unter dem strikten Siegel der Verschwiegenheit der betroffenen Personen. Insofern war ich erleichtert, als die Schüler an mich herantraten und wünschten, dass ich etwas tue. Ich hatte endlich ein Mandat, zu handeln.
Nach dem Gespräch wandten Sie sich mit einem Brief an mögliche betroffene Jahrgänge mit der Bitte, sich zu melden, wenn sie Opfer von Missbrauch wurden. Ende Jänner 2010 ist der Skandal dann durch die „Berliner Morgenpost“ publik geworden. Da war die Aufregung sicher extrem ...
Mertes: Die ganze Stadt war zuplakatiert mit der Titelseite „Canisius-Kolleg – Schule des Grauens“. Deswegen habe ich sofort mit den Schülern und Lehrern gesprochen, die zunächst die Stigmatisierung ihrer Institution als ungerecht empfanden. Die Taten lagen ja 30 Jahre zurück. Ich konnte ihnen verständlich machen, dass man die Last der Stigmatisierung tragen muss, wenn man so etwas aufklären will. Die Schüler haben das begriffen, der größere Teil des Klerus und der Bischofskonferenz damals nicht. Bis heute versuchen immer noch einige die Stigmatisierung abzuwerfen. Die jungen Leute haben ihnen vorgemacht, wie es sein sollte – sie solidarisierten sich mit dem Aufklärungskurs.
Welche Gründe stecken hinter der Vertuschung von Missbrauch?
Mertes: Der Schutz der Institution. Man ist stolz, ihr anzugehören. Und dann erfährt man so etwas Schreckliches – das kratzt am Selbstbild und das tut richtig weh. In Deutschland hat sich dann die kirchliche Öffentlichkeit, insbesondere auch die Bischöfe – mehr als in Österreich, wo Kardinal Schönborn meines Erachtens sehr verdienstvoll agiert hat –, zu lange auf die Täter fixiert und das Vertuschungsproblem überhaupt nicht als Teil des Missbrauchsproblems in seiner ganzen Tiefe akzeptiert.
Sie haben das Schweigen gebrochen und damit eine Aufdeckungswelle nicht nur an kirchlichen Bildungseinrichtungen in Gang gesetzt. Sind Sie zufrieden mit dem, was seither an Missbrauchs-Aufarbeitung geschehen ist?
Mertes: Ich freue mich darüber, dass viele Betroffene angefangen haben zu sprechen. Seither ist viel geschehen, in der Aufarbeitung und auch in der Prävention. Das Wichtigste für mich persönlich ist, dass man in unseren pädagogischen Institutionen, aber darüber hinaus auch in der Kirche, endlich über Dinge sprechen kann, über die ein Tabu einschließlich einer Sprechunfähigkeit lastete. Das sind z. B. Fragen der Macht, der Sexualmoral, des Zölibates und des Frauenpriestertums. Heute werden Themen in der Kirche diskutiert, die durch die Aufklärung des Missbrauchs überhaupt erst ansprechbar wurden.
Was müsste Ihrer Meinung nach noch passieren?
Mertes: Ich wünsche mir, dass die Fraktion der Problemverweigerer endlich aus ihren Maulwurfslöchern rauskommt. Bis heute halten sie – bis in höchste klerikale Kreise hinein – an der Auffassung fest, Missbrauch gäbe es gar nicht, wenn sich alle an die Sexualmoral der Kirche halten und es keine schwulen Priester gäbe. Diese ideologische Problemanalyse ist ein Grund, weswegen wir in entscheidenden Punkten nicht weiterkommen.
Bild: Der Jesuit Klaus Mertes ist Direktor des deutschen Kollegs St. Blasien. Von 2000 bis 2011 war er Rektor des Jesuitengymnasiums Canisius-Kolleg Berlin (rechts). Im Jänner 2010 löste der Pater dort eine Aufdeckungswelle aus von Missbrauch an jungen Leuten in kirchlichen und auch nichtkirchlichen Bildungseinrichtungen.
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