Wort zum Sonntag
Nur zwölf Kapitel umfasst die Franziskus-Regel, die im Jahr 1223 endlich ihre päpstliche Anerkennung gefunden hat. Sie wird „Die bullierte Regel“ genannt, im Gegensatz zur zwei Jahre älteren, „nicht bullierten Regel“, die noch doppelt so viele Kapitel hatte und keine Anerkennung durch den Papst erhielt. Die Kapitel sind kurz, heute würde man sie „Absätze“ nennen.
So passt die Ordensregel des heiligen Franziskus auf ein einziges großes Blatt Papier. Das Original ist ein Schatz der franziskanischen Familie und wird im „Sacro Convento“ in Assisi aufbewahrt.
Der Anfang der Regel erklärt bereits, warum sie nicht ausführlicher ist. Darauf weist die Theologin, Osnabrücker Seelsorgeamtsleiterin und Franz- und Klara-Forscherin Martina Kreidler-Kos hin. „Es geht mit einem Satz los, in dem Franziskus sagt, unsere Regel ist, das heilige Evangelium zu beobachten. Als ob er damit sagen wollte: Wir brauchen gar keine eigene Regel, wir haben das Evangelium.“ Das bestätigt auch Bruder Thomas Schied, der Juniorats-
leiter der Deutschen Kapuzinerprovinz.
In den folgenden elf Kapiteln führt Franziskus dann aus, was das konkret heißt – „für die Brüder, die in den 1220er-Jahren dabei waren“, präzisiert Bruder Thomas. „Das ist auch der Punkt, wo wir uns heute fragen: Was heißt das für uns, in jeder einzelnen Niederlassung, in jedem der vielen Zweige des franziskanischen Ordensbaums.“
Im Gegensatz zur wesentlich älteren Ordensregel des heiligen Benedikt ist die Franziskus-Regel also minimalistisch. Sie verweist in erster Linie auf das Evangelium. Warum aber war überhaupt eine neue Ordensregel nötig?
„Der Grundimpuls war, unterwegs zu sein, und nicht an einem bestimmten Ort zu leben“, erläutert Martina Kreidler-Kos. Die ersten Franziskaner – die sich Minderbrüder nannten – waren Wanderbrüder. Sie wohnten nicht hinter Klostermauern. Denn die Zeit, in der sie leben, ist eine Zeit des Umbruchs: „Die Mobilität kommt ins Spiel“, sagt die Franziskus-Expertin.
Franziskus war ein Kaufmannssohn, das war nicht unwesentlich. „Die Kaufleute betrieben Handel. Sie reisten irgendwohin und kamen wieder zurück. Franziskus übertrug die Mobilität ins religiöse Leben.“
Der Umbruch sei epochal gewesen. „Die Mobilität hat das Mittelalter so verändert, wie die Digitalisierung heute unsere Gesellschaft verändert. Das schuf neben ungeahnten Möglichkeiten auch viele Gefahren.“ Franziskus erkannte, dass auch die Kirche mobil werden musste. Er schickte jeweils zwei Brüder aus und dachte anfangs gar nicht an feste Häuser und Strukturen. Nur einmal im Jahr sollten sich alle treffen.
Bei Franziskus gibt es daher auch keine lebenslange Hierarchie mehr, keinen Abt, der alles väterlich regelt. Die Ämter rotieren unter den Brüdern, werden nach einiger Zeit wieder abgegeben. Zentral wurde die radikale Armut. Seinen eigenen Abstieg vom reichen Kaufmannssohn zum armen Bettelbruder vollzog er aber nicht aus rein sozialem Engagement.
Es war eine spirituelle, ja mystische Erfahrung, die ihn dazu motivierte: Vor dem Kreuz in San Damiano und in der Begegnung mit einem Aussätzigen erlebt Franziskus, dass Gott, den er bisher als Weltenherrscher kennengelernt hat, als verletzliches Kind in der Krippe und als wehrloser Mann am Kreuz radikal armer Mensch geworden ist. „Dann muss ich das auch tun“, ist seine Konsequenz, so Martina Kreidler-Kos.
Er verbündet sich dadurch mit allen Menschen. „Sein Gottesbild verändert sich“, beschreibt Kapuzinerbruder Thomas Schied den Prozess. Gott rückt vom Himmel herunter auf Augenhöhe, und auch der Leprakranke kommt damit auf Augenhöhe.
Das Leben des heiligen Franziskus von Assisi ist für die Schwestern und Brüder der weitverzweigten franziskanischen Familie, der Ordensgemeinschaften, Dritten Orden und Freundeskreise, eine besondere Inspirationsquelle. Deshalb sind neben der Regel auch die anderen Schriften des Heiligen wie seine Briefe, sein Testament und die nicht bullierte Regel, sowie Legendensammlungen wichtig.
„Wir versuchen, etwas vom Geist dieses facettenreichen Menschen zu erspüren“, beschreibt es Bruder Thomas Schied. „Wie hat er in seiner Zeit das Evangelium gelebt, und was heißt das für uns?“
Zwei Aspekte darf man dabei aber nicht übersehen: „Wir sind keine Franziskusnachfolger, sondern gemeinsam mit Bruder Franz von Assisi sind wir Christusnachfolger. Es geht uns auch nicht darum, möglichst ideale Franziskus-Kopien darzustellen. Da würden wir schnell in der Karikatur landen.“
Wo auch immer eine franziskanisch geprägte Gemeinschaft lebt, wird sie sich fragen: „Wer lebt denn um uns herum? Welche Bedürfnisse gibt es hier und jetzt? Und welche Charismen, welche Fähigkeiten bringen die Brüder oder Schwestern mit?“
So ging es auch den Kapuzinern, die sich 300 Jahre nach der päpstlichen Anerkennung der Franziskusregel formierten. Die ersten Kapuziner, die nach Paris kamen, erhielten ein Kloster am Stadtrand. In der Seelsorge wurden sie weder gebraucht noch gewollt – zu neu, zu fremd, zu radikal.
Also schauten sie, was denn diese Stadt nötig hat und fanden heraus, dass es keine Feuerwehr gab. „Daraufhin bildeten sie die erste Feuerwehr der Stadt Paris“, erzählt der Kapuzinerbruder. Nicht immer sei es leicht, eine entsprechende Aufgabe zu finden.
„Manchmal finden wir eine Antwort auf die Frage, wo wir gebraucht werden, manchmal auch nicht. In der Zeit heute, in der sich die Kirche in der säkularen Welt neu sortieren muss, wissen wir auch noch nicht genau, wie wir uns da aufstellen. Wir schauen hin, versuchen, offen zu sein, und sind mit der Kirche auf der Suche.“ Das könne ganz neue Formen hervorbringen.
Eine wesentliche Frage sei, wer denn heute bedürftig ist. Einerseits die klassisch sozial Armen, aber es gäbe auch andere Formen von Armut. „Menschen, die auf der Suche nach Spiritualität sind. Was die Kirche zu bieten und zu verkünden hat, kommt im Moment nicht gut zusammen mit dem, was viele Menschen als Bedürfnis erleben. Das wirft Fragen auf, die uns beschäftigen.“
In all diesen Suchprozessen erlebt Bruder Thomas Schied die Franziskus-Regel als Kompass – nicht als Navigationsgerät, das an jeder Kreuzung „links abbiegen“, „rechts abbiegen“, „bremsen“ oder „Gas geben“ sagen würde. Das wäre eine Engführung.
„Manchmal kann man das bei christlichen Gruppen erleben. Es erzeugt bei mir eine Enge.“ Dass nicht alles bis ins Detail festgelegt ist, zeige, dass „Gott uns zutraut, dass wir den Weg selbstverantwortlich gehen können. Das unterscheidet Kirche von Sekte. Dass der Mensch in einer großen Freiheit seinen Weg gehen darf.“
Dass es Engführungen auch in der Kirche gab und gibt, „hängt uns ganz schön nach“, meint Bruder Thomas. Wie im persönlichen Leben seien aber auch in der Kirche und in der Gesellschaft Krisen Zeichen für Reifungsprozesse.
Die Gefahr eines Rückschritts in eine vermeintlich bessere Zeit bestehe zwar.
„Aber ich bin zuversichtlich, dass sich die Kirche, das Christentum, in dieser Krise neu findet und neu in die Welt hineinwirken kann. Wie das aussehen wird, weiß ich noch nicht.“
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