Wort zum Sonntag
Erlebnis ist ein zentrales Stichwort der gegenwärtigen Gesellschaft. Im Bereich des Bergsteigens spricht man vom Gipfelerlebnis, vom Erlebnis der Weite oder vom Erlebnis des Sonnenaufgangs. Die Welt wird in der Werbung als Erlebnisraum vorgestellt. Dabei spielt das Auge bzw. das Sehen eine herausragende Rolle.
Die vielen optischen Reize und Angebote sind freilich ambivalent. Wird die Wahrnehmung nur auf einen reduzierten Blickwinkel des Glatten und Schönen geschaltet, werden Lebensinhalte auf Unterhaltungsergiebigkeit getestet, dann entstehen neue Formen der Abstumpfung und der Unempfindlichkeit. Erlebnissucht ist mit einem Verlust an Wahrnehmungsvermögen verbunden. Wer sich ständig berieseln lassen muss, kann nicht mehr zuhören. Wir haben das Sehen verlernt und können stattdessen – nach einem Wort von Bert Brecht – nur noch glotzen.
Wie sehr jedoch die Natur einlädt, in und mit ihr Wesentliches zu betrachten, drängt sich jedoch wieder stärker in unser Bewusstsein.
Der nicaraguanische Priester und Dichter Ernesto Cardenal bringt das lyrisch zum Ausdruck: „Die Abende und die Nächte sind ruhig und einsam, weil Gott sie für die Kontemplation geschaffen hat. Die Wälder und die Wüsten, der Sternenhimmel und die Berge sind geschaffen, damit wir uns in sie versenken. ... Die ganze Schöpfung schreit uns durchdringend, mit einem großen Schrei, von der Existenz und der Schönheit und der Liebe Gottes. An jeder Straßenecke finde ich Briefe Gottes. ... In der ganzen Natur finden wir die Initialen Gottes, und alle erschaffenen Wesen sind Liebesbriefe Gottes an uns.“ Bei Ernesto Cardenal finden wir eine Synthese von Lobpreis des Schöpfers und Herrschaftskritik. Die Beschreibung der Größe Gottes und die Widerstandspraxis gegen irdische Götzen gehen zusammen. Natur, Berge sind eine Gegenwirklichkeit zu Geldwirtschaft und politischer Macht.
Beim Versenken in die Berge geht es jedoch nicht bloß um eine ethische oder politische Frage; es geht um die Gottesfrage. Gott ist in der Schöpfung. Biblisch ist der Gott unserer Hoffnung (Röm 15,13) auch der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs (Ex 3,6; Mt 22,32), der „Himmel und Erde geschaffen hat“ (Ps 121,2). Auf dem Berg zu sein, das bedeutet eine Aufforderung zum Schauen und Staunen. Die Berge lehren das Schauen und Verweilen. „Wer vom Glanz der geschaffenen Dinge nicht erleuchtet wird, ist blind; wer durch dieses laute Rufen der Natur nicht erweckt wird, ist taub; wer von diesen Wundern der Natur beeindruckt, Gott nicht lobt, ist stumm; wer durch diese Signale der Welt nicht auf den Urheber hingewiesen wird, ist dumm. Öffne darum die Augen, wende dein geistiges Ohr ihnen zu, löse deine Zunge und öffne dein Herz, damit du in allen Kreaturen deinen Gott entdeckest, hörest, lobest, liebest..., damit nicht der ganze Erdkreis sich anklagend gegen dich erhebe!“ (hl. Bonaventura).
Dem Himmel nahe
Die Spiritualität der Berge
Teil 1 von 4
von Bischof Manfred Scheuer, Linz
Wort zum Sonntag
Birgit Kubik, 268. Turmeremitin, berichtet von ihren Erfahrungen in der Türmerstube im Mariendom Linz. >>
Jetzt die KIRCHENZEITUNG 4 Wochen lang kostenlos kennen lernen. Abo endet automatisch. >>