Der ägyptische Jesuit Henri Boulad sieht im Aufstand des Volkes gegen den fundamentalistischen Islam der Muslimbrüder eine „echte Revolution“. Mittlerweile ist die Muslimbruderschaft in Ägypten wieder verboten. Weil sie die nationale Sicherheit gefährdet, hat ein Gericht in Kairo Ende September die Bewegung für illegal erklärt.
Nach den Worten Henri Boulads war es ein „Aufschrei des Volkes“ gegen den fundamentalistischen Islam der Muslimbruderschaft, als am 30. Juni 33 Millionen Menschen in Ägyptens Städten auf die Straße gegangen sind, um gegen Präsident Mohammed Mursi zu demonstrieren. „Was jetzt in Ägypten passiert, ist eine echte Revolution. Das Volk wendet sich offen gegen den radikalen Islam. Das ist etwas ganz Neues, eine Umwälzung in Ägypten, der Wiege der Muslimbrüder“, so der ägyptische Jesuitenpater Henri Boulad.
Moderne und Islam
Um die aktuelle Situation in Ägypten zu verstehen verweist Henri Boulad immer wieder auf die Geschichte des Landes im Hinblick auf die Entwicklung des Islam und seiner Begegnung mit der Moderne. Im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts öffnete sich das Land unter Muhammad Ali und seinem Nachfolger Ismail Pascha in Richtung Westen und Moderne und erfuhr eine Blütezeit. Als Reaktion gegen diesen Kurs gründete Hassan al Banna 1928 die Muslimbruderschaft, um die Welt für einen radikalen, strengen, fundamentalistischen Islam zu gewinnen. „An diesem Punkt sind wir jetzt wieder. Moderne, das heißt Vorrang des Menschen, Freiheit des Individuums, kritisches Denken, Trennung von Religion und Staat – damit hat der radikale Islam ein Problem. Alle Strömungen im Islam, die sich zur Moderne hin öffnen, seien es muslimische Denker, seien es Schriftsteller oder Künstler, werden von den Muslimbrüdern verurteilt, bekämpft und als Verräter gesehen“, sagte der Jesuit bei einem Mediengespräch in St. Virgil in Salzburg.
Kein Militärputsch
Pater Boulad betont, dass die Mehrheit der Muslime in Ägypten freundliche, tolerante Menschen sind. Doch es gibt diese Kerngruppe der Muslimbrüder, die alle auf Linie bringen will. 90 Prozent der Bevölkerung haben ihr eine Absage erteilt. „Die gemäßigten Muslime haben die Muslimbrüder gestürzt. Präsident Mursi hat seine Versprechen für mehr Freiheit, Sicherheit und Wohlstand nicht gehalten. Es war eine Aktion des Volkes, nicht des Militärs. Das Militär ist dem Willen des Volkes gefolgt, um dessen Forderungen durchzusetzen“, so Boulad. Er widerspricht damit westlichen Politikern und Medien, die von einem Militärputsch sprechen. Auch die Darstellung Mursis als demokratisch gewählter Präsident ist für ihn eine Farce. „Bereits im Vorfeld der Wahl sind 4,5 Millionen Wahlzettel ausgefüllt worden; Muslimbrüder haben in Dörfern den Zugang zu den Wahllokalen versperrt und viele Stimmen gekauft, indem sie Geld oder Lebensmittel an die Bevölkerung verteilt haben.“
Widerstand
Auch wenn die Muslimbrüder in Ägypten mehrheitlich abgelehnt werden, so müsse man sich auf einen heftigen Widerstand der Bewegung gefasst machen, warnt Henri Boulad. „Sie würden ihre Niederlage nie anerkennen, sondern ihr Hauptquartier von Ägypten nach Brüssel, nach Berlin oder nach New York verlegen. Da gibt es schon Vorbereitungen. Sie haben sich vollständig für eine fundamentalistische Richtung entschieden, bis hin zum Terrorismus. Sie werden die Konfrontation suchen und das kann bis zu einem Krieg der Religionen gehen. Ich glaube aber nicht, dass der Krieg sich zwischen Christentum und Islam abspielen wird, sondern zwischen der modernen Welt und dem Islam.“
Zickzacklinie
Der Westen hat aus Gründen der Toleranz, der Annahme des anderen, der Entwicklung des Multikulturellen die Tore für den Islam geöffnet. Doch es herrscht hier eine Art Naivität und eine übertriebene politische Korrektheit wegen der kolonialistischen Vergangenheit. „Aus Sorge, sich intolerant zu verhalten und aus Angst des Vorwurfs der Islamophobie wird nicht eingegriffen. Und diese Islamophobie ist die neue Waffe der Muslimbruderschaft; damit blockieren sie den Westen in seinem Handeln. Das ist moralischer Terror. Der radikale Islam wird versuchen, die Gesellschaft im Westen zu erobern.“ Die Muslimbrüder seien schlaue Strategen, führt Boulad aus, sie fahren eine Zickzacklinie, um ans Ziel zu gelangen. „Das, was sie in Richtung Westen sagen und das, was sie wirklich denken, sind zweierlei Dinge.“ Außer Acht lassen darf man auch nicht, dass Moscheen nicht nur Orte des Gebets sind, sondern auch Orte, wo Politik gemacht wird. Religion und Politik sind im Islam untrennbar verbunden, so Boulad.
Christen wandern aus
Christen erleben in Ägypten seit 30 Jahren Verfolgung. Doch laut Henri Boulad sei jetzt die Situation der christlichen Minderheit noch schlimmer geworden. „Allein am 14. August, an einem einzigen Tag, wurden 50 bis 80 Kirchen und kirchliche Einrichtungen verbrannt oder zerstört. Die zehn Millionen Christen in Ägypten, vorwiegend Kopten, leben in Angst und Schrecken. Sie werden gekidnappt, entführt, die Mädchen werden vergewaltigt und die Polizei hat die Lage nicht im Griff. Die Folge ist eine Auswanderungswelle vor allem nach Kanada und Australien.“
Zur Wehr setzen
Trotz der schwierigen Lage in Ägypten ist der Jesuit optimistisch. „Derzeit haben wir eine Übergangsregierung von Technokraten, die vom Volk akzeptiert wird. Ich bin überzeugt, dass das Militär keine Militärdiktatur errichten, sondern freie Wahlen für eine demokratisch gewählte Regierung vorbereiten will. Vielleicht schaffen es die Ägypter, den radikalen Islam zu kippen und so einen Religionskrieg zu vermeiden. Wenn sich die gemäßigten Muslime zu wehren beginnen und auf die Straße gehen – auch im Westen – dann kann sich etwas verändern. Derzeit erleben wir aber leider eine Passivität in diese Richtung. Die Radikalen sind momentan die Wortführer.“
Darf sich eine Ägypterin die Augenbrauen zupfen?
Nichts charakterisiert das gesellschaftliche Klima Ägyptens besser als die vielen Fatwas, erklärt der Islamwissenschafter P. Samir Khalil Samir. Für jede noch so banale Frage wird ein Rechtsgutachten, eine Fatwa, von einem muslimischen Gelehrten, eingeholt. Soll es mit dem Land wieder aufwärts gehen, brauchen wir eigenständig denkende Menschen, betont der Jesuit.
„Darf sich eine Frau die Augenbrauen zupfen? Darf sie Lippenstift verwenden?“ – P. Samir Khalil Samir redet sich in Rage: „Niemand in Ägypten traut sich mehr, selbst zu entscheiden. Ist ein Problem auch noch so unbedeutend, es wird ein muslimischer Rechtsgelehrter damit befasst.“ Dieser erlässt eine Fatwa, in der er entscheidet, was zu tun ist. Im Internet, in Radio- und Fernsehprogrammen – täglich werden hunderte Fatwas verkündet. „Sie sind zu einer richtigen Plage geworden“, so der Ägypter Samir Khalil Samir. Die Fatwa-Sucht der Menschen macht das derzeitige Klima in Ägypten sichtbar. „Das ist eine Infantilisierung der Gesellschaft. Das selbständige Denken gibt es in Ägypten nicht.“ Samir nimmt dabei die Christ/innen nicht aus und erinnert an den 2012 verstorbenen koptischen Papst Schenuda. Auch er hat wöchentlich zehn Fragen beantwortet, die ihm Kinder – im Auftrag ihrer Eltern – in der Kathedrale zu seinem Thron gebracht haben.
Bildung als Schlüssel
P. Samir versteht seine Analyse nicht als pauschale Schuldzuweisung an die 83 Millionen Bewohner/innen seines Heimatlandes. Rund 40 Prozent von ihnen sind Analphabet/innen und selbst mit dem Schulbesuch ist das eigenständige Denken nicht garantiert. Er erklärt das Problem: „Unser arabisches Wort für Lernen bedeutet Auswendig-Lernen.“ Bildung – und zwar Erziehung zum eigenständigen Denken – muss ganz oben auf der Liste jener Vorhaben stehen, die man sofort angehen muss, sagt P. Samir Khalil Samir: „Wir brauchen einen Bildungs-Dschihad“. Er beschreibt die geforderte Bildungsoffensive bewusst mit dem Wort „Dschihad, heiliger Krieg“, um die Dringlichkeit seines Anliegens zu unterstreichen. „Erziehung zur Eigenständigkeit – das ist für die Zukunft Ägyptens von entscheidender Bedeutung.“