Vor 100 Jahren begannen die Deportation und Ermordung der größten christlichen Minderheit im Osmanischen Reich – der Armenier. Der Kirchenhistoriker Hacik Rafi Gazer beschäftigt sich mit dem Thema nicht nur beruflich, sondern auch privat. Er ist ein Nachfahre von Überlebenden des Genozids.
Ihr Großvater hat den Völkermord an den Armeniern überlebt. Was hat er Ihnen über die Ereignisse von damals erzählt? Hacik Rafi Gazer: Mein Großvater war Bauer und stammte aus Corkadan in der Provinz Yozgad. 1915, als die Deportationen begannen, war er 34 Jahre alt, verheiratet und hatte eine Tochter. Über das, was geschah, erzählte er kaum etwas. Nur so viel, dass Männer und Frauen getrennt voneinander deportiert wurden. Es gelang ihm, sich in den Wäldern und Bergen zu verstecken und dem Ganzen zu entkommen. Als er 1918 in sein Dorf zurückkehrte, konnte er seine Frau und seine Eltern nicht mehr finden, aber Gott sei Dank seine Tochter – mit gespaltenen Ohrläppchen, weil man ihr mit Gewalt die Ohrringe weggerissen hatte. Als Kind wunderte ich mich immer über die komischen Ohrläppchen meiner Tante.
Ist Ihr Großvater in seinem Heimatdorf geblieben? Hacik Rafi Gazer: Wie auch einige andere Überlebende versuchte er vergeblich, in Corkadan neu anzufangen. 1928 ging er dann nach Istanbul, hat dort als Gärtner gearbeitet, heiratete ein zweites Mal und wollte nie wieder in sein Dorf zurückkehren. Ich weiß nicht warum. Das war absolut tabu.
Waren Sie persönlich schon einmal in Corkadan? Hacik Rafi Gazer: Nein, aber ich möchte heuer noch mit meiner Frau dorthin fahren. Mein Großvater starb 1978, meine Großmutter, die zweite Frau meines Großvaters, ein Jahr später. Von ihr weiß ich, dass sie aus Igdeli kam, ihre Familie Weinberge hatte und sie dort immer mit Igeln gespielt hat. Auch dort wollen wir hinreisen. Beide Dörfer liegen in der Nähe von Kappadokien. Ich wünschte, ich könnte jetzt als Erwachsener noch mit ihnen über die Geschehnisse von damals sprechen, weil sie ja so wenig erzählt haben. Das ist sozusagen ein transgenerationales Trauma. Mit diesem Thema beschäftigt sich auch meine Tochter, die in Klagenfurt Psychologie studiert.
Das heißt, die Sache lässt Sie nicht los ... Hacik Rafi Gazer: Genau. Es sind viele Verletzungen da und wir versuchen das in der Familie aufzuarbeiten. Als Kirchenhistoriker habe ich herausgefunden, dass die Kirchen in den Heimatdörfern meiner Großeltern St. Lazarus und St. Kyriakos hießen. Nach ihnen sind mein Vater und sein Bruder benannt. Ich glaube nicht, dass das ein Zufall war und das berührt mich zutiefst. Es gibt so viele Leute, die gar nichts mehr über ihre armenischen Vorfahren wissen, weil unwiederbringlich alles vernichtet wurde. Viele Fragen bleiben offen.
Die Armenier leben ja heute in allen fünf Kontinenten zerstreut. Wie ist das in Ihrer Familie? Hacik Rafi Gazer: Mein Vater wurde in Istanbul geboren und ich selber bin 1963 auch dort auf die Welt gekommen. 1981 ging ich nach Deutschland zum Studium der Theologie, weil die Armenier in der Türkei keine theologische Ausbildungsstätte haben. Und ich blieb. Seit 2006 bin ich deutscher Professor für Geschichte und Theologie des Christlichen Ostens an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen-Nürnberg. Und wir haben noch Verwandtschaft in Marseille. Es gibt heute keine Familie in Armenien oder außerhalb des Landes, die nicht betroffen ist von den Geschehnissen rund um den Völkermord. Was die Diaspora-Situation der Armenier betrifft, so ist diese aber nicht erst 1915 entstanden. Bereits im 11. Jahrhundert haben sie durch Handelsbeziehungen ein weites Netz gesponnen. Es gibt Diaspora-Gemeinschaften in der heutigen Ukraine, auf der Krim, in Moskau, in Amsterdam, in Livorno, in Venedig, in Indien und auch in Österreich. Durch den armenisch-katholischen Mechitaristen-Orden gibt es in Wien Niederlassungen. Durch diesen Orden konnte Vieles gerettet werden, was nach 1915 nicht mehr möglich war.
Es wurden im Zuge des Genozids tausende armenische Kirchen, Klöster und Schulen zerstört ... Hacik Rafi Gazer: Ja, es gab im Osmanischen Reich 51 Diözesen alleine der armenisch-apostolischen Kirche. Insgesamt haben wir drei Konfessionen, die armenisch-apostolische Kirche, die mit Rom unierte Gruppe der armenisch-katholischen Kirche und die armenisch-protestantische Kirche. Alle drei Gemeinschaften waren von den Deportationen betroffen. Teilweise sind auch Patriarchate mit in die Wüste geschickt worden und die Patriarchen wurden Augenzeugen. Wir hatten über 2500 Kirchengemeinden, die alle unwiederbringlich zurückgelassen worden sind. Nur ganz wenige sind heute in Form von Ruinen noch vorhanden. Das heißt, wir haben nicht nur die physische Vernichtung eines Volkes mit 1,5 Millionen Toten, sondern auch ihr Vermögen, ihre Felder, ihr Hab und Gut und ihr Kulturgut ging verloren.
Papst Franziskus bezeichnete schon 2013 die Geschehnisse von 1915 bis 1923 als ersten Genozid des 20. Jahrhunderts. Das wurde auch kritisch betrachtet. Was sagen Sie dazu? Hacik Rafi Gazer: Papst Franziskus kennt die Zusammenhänge schon aus seiner argentinischen Zeit, wo er auch mit der argentinischen armenischen Diaspora zu tun hatte. In den letzten Jahren sind vier umfangreiche Publikationen zum Thema Genozid an den Armeniern erschienen, die auf Dokumenten beruhen, die in den vatikanischen Archiven vorliegen. Diese Dokumentenbände in italienischer Sprache weisen eindeutig nach, dass es sich um einen Genozid gehandelt hat. Papst Franziskus wusste von diesen Publikationen. Es berichten darin die Nuntiaturen, aber auch die katholischen Bischöfe, die vor Ort waren, über das, was geschehen ist. Auf der Grundlage dieser Publikationen ist seine Äußerung auch einzuordnen.
Der Genozid an den Armeniern wird derzeit von 22 Staaten anerkannt. Deutschland und Österreich zählen noch nicht dazu. Und von der Türkei wird der Genozid offiziell nach wie vor geleugnet ... Hacik Rafi Gazer: Was die Bundesrepublik Deutschland betrifft, so sind momentan die Tendenzen nicht groß, die in Richtung Anerkennung deuten. Es wird am 24. April im Deutschen Bundestag eine Debatte darüber geben, die es vor zehn Jahren schon einmal gab, und wir werden sehen, was passiert. Die Dinge bewegen sich sehr langsam, was verständlicherweise auch mit der Außenpolitik zu tun hat. Aber es wäre zu wünschen, dass gerade von Deutschland aus ein Signal in Richtung Aufarbeitung und Versöhnung kommt.
Warum? Hacik Rafi Gazer: Es waren damals u. a. deutsche militärische Berater, diplomatische Beobachter, mehrere wirtschaftliche und kirchliche Einrichtungen im Osmanischen Reich vor Ort und wir haben aus allen diesen Einrichtungen mehr als genug Materialien, Dokumente und Berichte, die für die Aufarbeitung des Themas und damit auch für die Anerkennung des Völkermords zur Verfügung stehen. Johannes Lepsius war ein deutscher evangelischer Pfarrer, der im ausgehenden 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Osmanischen Reich durch seine Hilfsorganisationen als Augenzeuge vor Ort Dokumente gesammelt und einen Bericht über das, was geschehen ist, 1916 veröffentlichte. Deutschland war durch diese verschiedenen Institutionen Zeuge der Vorkommnisse. Und dieses Bezeugen ist jetzt unsere Aufgabe. In welcher Form das bezeugt wird, das ist die große Herausforderung für die nächsten Jahre.
Wie schwierig ist die Beziehung zwischen Armenien und der Türkei? Hacik Rafi Gazer: Es herrscht eine große Distanz, was die Vergangenheitsbewältigung betrifft. Im Augenblick bestehen keine diplomatischen Beziehungen. Auch die Grenze zwischen den beiden Staaten ist geschlossen. Sie zu öffnen wäre ein wichtiger Schritt, um sich wieder anzunähern; und von türkischer Seite sollte diese institutionalisierte Verleugnung des Völkermordes an den Armeniern beendet werden, um das Thema zu enttabuisieren und aufzuarbeiten. Aufarbeitung gibt es zwar zunehmend in beiden Ländern, aber zivilgesellschaftliche und gesamtgesellschaftliche Gruppierungen müssten noch mehr aufeinander zugehen und über die Sache reden. Wir dürfen das, was passiert ist, nicht vergessen. Erinnern heißt Verantwortung tragen. Das ist unsere Pflicht.
Zur Sache
„Erster Genozid des 20. Jahrhunderts“
In einem Gottesdienst zum 100. Jahrestag des Beginns der Verfolgung der Armenier während des Ersten Weltkriegs sprach Papst Franziskus am Sonntag erneut (siehe Interview) vom „ersten Genozid des 20. Jahrhunderts. Die Menschheit hat im vergangenen Jahrhundert drei große, unerhörte Tragödien erlebt: die erste, die allgemein als ‚der erste Genozid des 20. Jahrhunderts‘ angesehen wird; diese hat euer armenisches Volk getroffen“, sagte der Papst in seinem Grußwort an die armenischen Gäste. Unter ihnen waren der armenische Staatspräsident Sersch Sargsjan sowie die Oberhäupter der armenisch-apostolischen und der armenisch-katholischen Kirche, die Patriarchen Karekin II. und Nerses Bedros XIX. Franziskus nannte die Verfolgung der Armenier gemeinsam mit den Verbrechen des Nationalsozialismus und des Stalinismus. Durch Massaker und Todesmärsche kamen zwischen 1915 und 1917 nach Schätzungen bis zu 1,5 Millionen Armenier ums Leben.
Nach der Aussage von Papst Franziskus zum Völkermord an den Armeniern hat die türkische Regierung am Sonntag den Vatikanbotschafter in Ankara ins Außenministerium einbestellt. Zudem warf die Türkei Papst Franziskus vor, mit seiner Äußerung zum Völkermord an den Armeniern Hass zu schüren.