Die Männer sind im Krieg, die Geschäfte leer und ein zehnjähriger Bub überlegt, wie er seiner Mutter trotz allem eine Freude machen kann. 50 gestohlene Reichspfenning wirken dabei Wunder.
22 Uhr. Zapfenstreich. Lili Marlen streunt unter der Laterne. Vor der Kaserne. Vor dem großen Tor. Wie an jedem Abend. Seit Vater im Krieg ist.
„Ob es Vater gut geht?“ Jeden Abend die gleiche Frage. Das ewige Bangen bis zum Einlangen eines Lebenszeichens. Eines verknüllten Feldpostbriefes. Von dem man nicht weiß, ob es nicht der letzte ist. Von dem man nicht weiß, ob er nicht von einem Toten kommt. Oder der vorletzte. Den letzten bringt der Kreisleiter selbst. Der Kreisleiter mit den blanken Stiefeln und der Tellermütze in der Hand. Den letzten Brief mit dem ehrenvollen Satz „...für Führer und Vaterland...“. Täglich drehen jetzt Kreisleiter mit blanken Stiefeln ihre Tellermützen in der Hand. Während sich Witwen und Mütter mit einem stummen Schrei aufbäumen. Gegen den ehrenvollen Satz. Gegen den Kreisleiter. Gegen den Krieg. Gegen den Führer. Gegen Gott.
Nicht nur Mutter ist zu dieser Stunde immer traurig. Auch ich bin traurig. Heute besonders. Übermorgen ist Muttertag. Muttertag im Krieg. Im Krieg hat eine Mutter jeden Tag Muttertag. Solange sie nicht den Mann verliert. Oder den Sohn. Aber ich bin nicht draußen. Noch nicht! Vater ist draußen. Vier Jahre schon. Ich bin bei Mutter. Ich muss sie beschützen. Ich muss ihr über die Zeit des Bangens und Hoffens hinweghelfen.
Und übermorgen muss ich ein Muttertagsgeschenk für sie haben. Ich! Muss! Übermorgen! Was? Woher? Ein Bub mit zehn Jahren gibt sich nicht zufrieden mit einem Strauß Feldblumen. Für die Mutter. Zum Muttertag.Aber ein Bub mit zehn Jahren hat kein Geld für Geschenke. Außerdem sind die Regale in dem kleinen Geschäft am Dorfplatz leer.
***************
Obwohl ich danach gesucht habe, erschrecke ich. Das Metall der Taschenlampe unter Mutters Kopfkissen ist kalt. Die Tür zur Küche knarrt und die Tischlade klemmt. Wie immer. Doch die Handwerker sind eingerückt. Und der Mann, der Mutter ab und zu in Garten und Haus geholfen hat, kommt nicht mehr. Seit ihn Mutter hinausgeworfen hat. Seit er nicht nur Zigaretten für seine Arbeiten verlangt hatte. Seit er etwas anderes von Mutter für die Arbeiten verlangt hatte.
Die Tischlade klemmt. Ich lege die Taschenlampe auf den Tisch. Mit dem Glas nach unten. Damit Mutter nicht aufwacht. Dann öffne ich die Lade. Öffne die Geldbörse. Mutters Geldbörse. Mutters farblose, abgegriffene, alte Geldbörse. Der Zeigefinger schiebt die kalten Markstücke zur Seite. Das Fehlen einer Mark würde Mutter auffallen. Der Daumen hilft dem Zeigefinger. Fünfzig Pfennig! Fünfzig Reichspfennig! Eine kleine Münze. Ein großer Schatz.
Die Lampe wieder unter Mutters Kopfkissen. Die Münze unter meine Matratze. Der Tisch wird nicht leer sein. Übermorgen. Am Muttertag.
***************
„Könnten Sie mir vielleicht ein Ei verkaufen? Oder etwas Butter?“ „Verkaufen?“ „Ja! Für meine Mutter!“ Langsam öffnet sich die kleine Faust: „Hier!“ Die Bäuerin schaut auf das Geldstück. Schaut in meine Augen. Legt das Flickzeug weg. Rückt den Stuhl und verschwindet in der Speisekammer. Gottlob, sie hatte nicht gefragt, woher ich das Geld habe. So ist das also. Nur Geld muss man haben. Geld. Dann kann man kaufen. Dann ist man kein Bettler mehr. Geld? Was weiß ein Bub mit zehn Jahren von Geld? Dass man damit kaufen kann? Kaufen? Im Krieg? Dass man ausgelacht wird, wenn man nichts anderes hat als Geld? Keinen Schmuck, keine Teppiche, keine Klaviere, keine feine Wäsche und Anzüge vom Mann an der Front. Dem sie ohnehin zu weit geworden sind? Was weiß ein Bub mit zehn Jahren? Dass die Bauern am Land nichts verkaufen können? Weil sie alles abliefern müssen. Und weil sie den Rest für ihre Söhne an der Front brauchen. Und für ihre hungernden Verwandten in der Stadt. Für die mit den Lebensmittelkarten. Für die, welche Schmuck, Teppiche, Klaviere, feine Wäsche und Anzüge vom Mann an der Front mitbringen.Wenn sie aufs Land kommen. Zu ihren Verwandten am Land. Die schon zwei Klaviere am Heuboden stehen haben.
Und den Rest brauchen sie schließlich selbst. Für ihre Zahlungen. Denn Geld ist gut, aber Schweinefleisch ist besser! Und den allerletzten Rest versteckt die Bäuerin im Heu. Für den äußersten Notfall. Für die Flucht. Aber so weit kommt es ja nicht. Heißt es im Radio.
Was also weiß ein Bub mit zehn Jahren, wenn er dasteht und wartet, dass man ihm ein Ei verkauft? Oder etwas Butter. Ja, verkauft! Für die Mutter. Er weiß nur, dass es die beste Welt mit den besten Menschen ist, wenn die Bäuerin aus der Speisekammer kommt, ihm zwei Eier hinhält und sagt: „Steck dein dreckiges Geld ein!“ Dabei sind die Eier dreckiger als das Geld. Mutter hat kein dreckiges Geld in ihrer Geldbörse. Und ich habe es auch nicht dreckig gemacht. Aber zwei Eier! Gleich zwei! Und das Geld auch noch zurück! Fünfzig Pfennig! Fünfzig Reichspfennig!
„Kaufen!“ Ich könnte vergehen bei diesem Zauberwort. Der nächste Bauer lächelte nur über mein Zauberwort. Oder über mein Gestammel? Er hat keine Eier zu verkaufen. Aber er gibt mir ein kleines Stück Fleisch. Richtiges Fleisch. Das einmal richtig lebendig war. Kein künstliches. Wo doch jetzt alles künstlich ist. Der Bauer verkauft das Fleisch nicht. Er gibt es mir so. Vielleicht, weil Vater schon vier Jahre im Krieg ist. Und er nicht!
Meine Glückssträhne reißt nicht ab. Sechzehn Eier! Dreiviertel Kilo Butter! Ein halbes Kilo Schmalz! Schätzungsweise. Das winzige Stück Fleisch! Richtiges! Kein künstliches! Und als Krönung ein Kännchen mit Schlagrahm! Schlagrahm! Nach mehr als vier Jahren Krieg. Und in der Hosentasche das Geld! Fünfzig Pfennig! Fünfzig Reichspfennig! Meine Fünfzig Reichspfennig! Mutters Fünfzig Reichspfennig!
Der schönste Tag meines Lebens! Nein, der zweitschönste! Morgen wird der schönste sein. Der Muttertag mit Butter und Schlagrahm. Und Fleisch. Und Schmalz. Und Eiern. Für die Mutter. Morgen. Am Muttertag.
***************
Die Tischlade klemmt. Wie immer. Doch die Handwerker sind eingerückt. Warum Mutter den Mann, der uns immer in Haus und Garten geholfen hat, nicht mehr kommen lässt? Ich lege die Taschenlampe auf den Tisch. Mit dem Glas nach unten. Damit sie nicht aufwacht. Ob sie etwas gemerkt hat? Dann öffne ich die Lade. Öffne die Geldbörse. Mutters farblose, abgegriffene, alte Geldbörse. Daumen und Zeigefinger vergraben die kleine Münze wieder unter den kalten Markstücken. Fünfzig Pfennig! Fünfzig Reichspfennig!
***************
Meine Geldbörse ist hellbraun. Neu. Aus echtem Leder. Schließlich ist schon längst Friedenszeit. Ich bekam sie als Hochzeitsgeschenk. Die Geldbörse. Von meiner Mutter. Meine Frau verstand nicht, warum ich darüber weinte. Wo sie doch leer war. Die Geldbörse. Leer, bis auf eine kleine Münze. Längst ohne Gültigkeit und Kaufkraft. Leer – bis auf Fünfzig Reichspfennig!
Der Autor Gerhard Spanring lebt in Krems-Stein in Niederösterreich.