Ikebana ist die Kunst, einzelne Blüten und Zweige zu einem harmonischen Gesteck anzuorden – aber nur auf den ersten Blick. Es ist ein Weg, über die Natur zu einer tieferen Lebenserfahrung zu kommen.
Ausgabe: 2015/22, Ikebana
26.05.2015
- Christine Grüll
Es ist ein zartes Blumenarrangement: Ein Zweig, Blüten und einzelne Blätter „wachsen“ aus einem Gefäß heraus. Ikebana heißt diese Kunstform. Pflanzen werden so angeordnet, dass die Schönheit jeder einzelnen sich entfalten kann. Es lässt sich auf verschiedene Weise ausüben: als ein blumiges Handwerk, bei dem man ein Gefühl für Pflanzen und Proportionen entwickelt; als Meditation und Übung, sich zu konzentrieren. Doch eine Möglichkeit führt direkt in das eigene Innere.
Ein blumiger Weg zu sich selbst
„Ikebana ist ein Weg, ganz selbst zu sein und den Alltag gut zu bewältigen“, sagt Christine Lener aus Innsbruck. Sie hat 13 Jahre in Japan gelebt und studiert und ist die einzige Lehrerin in Europa mit einem japanischen Studium in Ikenobo. Das ist eine der Schulen des Ikebana mit einer 550 Jahre alten Tradition. Mit jenen, die den „japanischen Blumenweg“ kennenlernen möchten, geht Christine Lener – sie sieht ungern ein Foto von sich in der Zeitung – in die Natur hinaus. Sie pflücken Blumen am Wegrand, die sonst nicht beachtet werden. Die Blumen sind dabei nicht Zweck. Wie sie gewachsen sind und in welchem pflanzlichen Umfeld, was sie aus Sonnenlicht und Wasser ohne menschliches Zutun gemacht haben, das wird aufmerksam beobachtet. Sich auf die Ebene der Blumen zu begeben heißt, ihre Sprache zu verstehen. Sie sagen: Wir mussten mit dem auskommen, was da ist. Wir konnten nicht erst auf scheinbar bessere Lebensumstände warten, um zu wachsen. Es ist einfach, diese Erkenntnis auf das eigene Leben zu übertragen. Die Fähigkeiten, Stärken und Schwächen jedes Einzelnen sind das Wertvollste, das der Mensch hat. „So wie ich bin, bin ich wertvoll. Ich bin dabei nicht abhängig von anderen Menschen oder Umständen“, sagt Christine Lener. Das gibt Kraft, auch in schwierigen Lebenssituationen.
Harmonische Gegensätze
Zurück im Arbeitsraum werden die Pflanzen arrangiert. Dafür kommt eine Ikebana- oder eine Gartenschere zum Einsatz. Aus Zweigen und Blüten entsteht eine Skulptur. Sie wächst aus einem Fuß aus dem Gefäß heraus und teilt sich. Ein harmonisches Gegensatzpaar. Wenn Kontraste und Proportionen nicht ganz stimmen, kann ein dritter Teil hinzugefügt werden. In aufrechter Körperhaltung und bewusster Atmung fällt es leichter, sich auf die Blume einzulassen, sich intensiv auf den Moment zu konzentrieren und Träume oder Sorgen hinter sich zu lassen. Mit Worten ist Ikebana aber nicht ausreichend zu vermitteln, sagt Christine Lener: „Das muss man spüren.“