Ich hätte meinen Platz im reservierten Abteil – wie immer in Fahrtrichtung – bezogen, meine Schuhe ausgezogen und Birkenstock-Sandalen angezogen, mich gemütlich im Erste- Klasse-Fauteuil zurückgelehnt. Ich hätte den letzten Roman von Johannes Mario Simmel aus dem Seitenfach meiner Reisetasche gezogen und mich in die Lektüre vertieft, während der Intercity „Franz Schubert“ sein monotones Tarrat-Tarrat-Tarrat hören ließ.
Aber diesmal war es anders
Ich bemerkte ihn sofort und als Erstes, als ich die Schiebetür zum Abteil Nummer 12 zurückschob. Sein Kopf und ein Ärmchen lugten aus dem riesigen Trekking-Rucksack heraus und seine bernsteinfarbenen Knopfaugen sahen mich an – jedenfalls schien es mir so. Ich suchte etwas irritiert nach der Nummer meines Sitzplatzes und – schaute wieder dem Teddybär in die Augen, denn der Rucksack stand eben auf dem für mich reservierten Platz. Ich sprach die junge Frau gegenüber an – oder besser gesagt: Ich wollte sie ansprechen. Denn meine Stimme versagte. Ich räusperte mich und setzte erneut an: „Entschuldigen Sie bitte: Ihr Rucksack steht auf meinem Sitzplatz. Würden Sie bitte ...?“ Sie fiel mir ins Wort und sagte hastig: „Klar – nur: Der Rucksack ist sehr schwer. Wenn Sie ihn mir hinaufheben ...? Oder, wenn es Ihnen nichts ausmacht, den Platz daneben zu nehmen?“ Nein, es machte mir nichts aus. Im Gegenteil. Ich wollte, dass der Rucksack stehen blieb. Ich nahm schräg gegenüber neben der Frau Platz, die ich noch nie gesehen hatte und die am Ende dieser Bahnfahrt mehr von mir wissen würde als die meisten anderen Menschen, die mich kannten.
Der Teddy auf meinem Platz irritierte mich
Die anderen Plätze des Abteils waren frei. Ich stellte meinen Sitz halb auf Liegeposition und streckte meine Beine aus. Gleichzeitig musterte ich verstohlen meine Sitznachbarin. Sie war etwa Mitte 20, um eine Kopflänge kleiner als ich und von so zierlicher Gestalt, dass ich mich unwillkürlich fragte, wie sie das wohl mit dem großen, schweren Rucksack schaffte. Während ich sie von der Seite beobachtete, ließ ich den Teddybären nicht aus den Augen. Was war das bloß? Wie konnte ich – ein erwachsener Mann mich von diesem kleinen Stofftierchen so in den Bann ziehen lassen, dass mir sogar vorhin das Wort im Hals stecken geblieben war?
Erinnerungen wurden wach
Sie musste mich beobachtet und meine Gedanken erraten haben, denn sie begann im selben Moment zu sprechen, als ich mich aufraffte, sie anzusprechen. „Sie mustern meinen Teddy aber gründlich!“, sagte sie und in ihrer Stimme schwang Interesse mit. „Ja“, sagte ich, „Ihr kleiner Teddybär fasziniert mich wirklich.“ Ich sah sie an und in ihren Augen stand eine Frage. So sprach ich weiter: „Wissen Sie, ich hatte auch einmal so einen Teddy. ‚Bärle‘ hieß er und hat Ihrem Teddy so unglaublich ähnlich gesehen, dass ich im Moment glaubte, meinem ,Bärle‘ zu begegnen.“ Ich hielt inne. Das war schon mehr, als ich eigentlich sagen wollte. „Sie hatten Ihr ,Bärle‘ offenbar sehr gern. Es bedeutete Ihnen mehr als ein anderes Spielzeug?!“ – „Ja, es bedeutete mir wirklich sehr viel“, hörte ich mich nachdenklich sagen. Ich fühlte mich erleichtert, als sich die Abteiltür öffnete und der Schaffner eintrat. „Die Fahrkarten, bitteschön.“ Ich zog meine Abo-Karte aus der Brusttasche und reichte sie dem Bahnbediensteten. Meine Platznachbarin stand auf und nestelte an ihrem Rucksack herum, um ihre Fahrkarte herauszunehmen. Dabei purzelte der kleine Teddy herunter und wäre auf den Boden gefallen, hätte ich nicht mit einem schnellen Reflex eine Hand ausgestreckt und ihn aufgefangen. So hielt ich diesen Teddybären in meiner Hand, während seine Besitzerin dem Schaffner den Fahrschein reichte. „Wünsche angenehme Reise, die Herrschaften.“ Damit war der Schaffner wieder verschwunden und ich saß da mit einem fremden – und doch so sonderbar vertrauten Stoffteddy in der Hand. Meine Reisebegleiterin hatte sich wieder gesetzt und halb zu mir gewandt. „Danke, dass Sie meinen Teddy vor dem unappetitlichen Fußboden gerettet haben“, sagte sie und zeigte dabei ein erstes Lächeln. „Möchten Sie mir nicht etwas von Ihrem ,Bärle‘ erzählen?“, fragte sie darauf rundheraus und warf mir einen aufmunternden Blick zu. „Wenn es Sie interessiert – gerne!“, antwortete ich zunächst zögernd. Und während der Zug das „Deutsche Eck“ passierte, erzählte ich dieser Frau neben mir meine Geschichte vom „Bärle“. Ich tauchte dabei tief in meine Kindheit ein – zurück in die Zeit, als ich ein sechsjähriger Bub war.
Eine Reise in die Kindheit
„Meine Mutter war damals an einer schweren Lungentuberkulose erkrankt und musste für drei Monate in eine Spezialklinik nach Natters, in der Nähe von Innsbruck. Ich konnte sie während der ganzen Zeit nicht einmal besuchen, wegen der Ansteckungsgefahr. Es war eine schlimme Zeit für mich, denn einerseits fehlte mir die Mutter sehr, andererseits hatte mein Vater für diese Zeit eine Haushälterin eingestellt, die ich überhaupt nicht leiden konnte. Ich glaube, sie mich auch nicht. Es war die Hölle ...!“ Meine Reisegefährtin lauschte aufmerksam und ermunterte mich weiterzusprechen. „Während dieser Zeit in Natters nähte meine Mutter zwei Teddybären: einen hellbraunen für meinen Bruder und einen dunkelbraunen für mich – genauso wie der Ihre“, sagte ich und stellte dabei fest, dass ich den Teddy immer noch in der Hand hielt. „Es war ungefähr zur Hälfte der Krankenhauszeit, da kam ein Päckchen mit der Post. Ich vergesse nie die überschäumende Freude, als ich mein ,Bärle‘ auspackte. Es war wie Liebe auf den ersten Blick und von diesem Augenblick an war ,Bärle‘ mein ständiger Begleiter. Man sah es ihm auch an. Nach zwei Jahren war sein Stoff-Fell schon recht abgewetzt und ein Ohr hatte meine Mutter wieder annähen müssen. Aber ohne ,Bärle‘ wollte ich nirgendwo hingehen. Auch in der Schultasche war er stets mit dabei. ER war mein Talisman.“
Das traurige Ende von „Bärle“
Während meiner Erzählung hatte ich immer noch den kleinen Stoffbären in der Hand gehalten. Meine Gesprächspartnerin hatte mich nicht unterbrochen. Jetzt fragte sie: „Und wo ist Ihr Teddybär geblieben? Haben Sie ihn noch?“ „Nein, mein ,Bärle‘ gibt es leider nicht mehr“, antwortete ich und eine Wehmut überkam mich dabei. „Es war an einem heißen Sommertag, etwa zwei Jahre später. Ich spielte mit Freunden am Achdamm. Es war unser liebster Spielplatz: Wasser, Steine, Bäume – und die Bahnlinie unserer Regionalbahn führte dort vorbei. Es war ein beliebtes Spiel, an den Geleisen zu horchen, ob der Zug kam. Man presste dabei ein Ohr auf den Schienenstrang und konnte die Vibration des herannahenden Zuges schon hören, bevor man ihn sehen konnte. So war es auch an jenem Nachmittag. Ich war wieder auf Horchposten und hörte das Klopfen, das einen nahenden Zug ankündigte. Ich wollte diesmal besonders lange hören. Als meine Freunde plötzlich schrien: ,Der Zug!‘, sprang ich auf und rannte weg. Dabei fiel ,Bärle‘ aus meiner Hosentasche auf die Schiene. Ich wollte zurücklaufen, aber inzwischen war der Zug schon ganz nahe herangekommen. Ein schrilles Warnsignal des Lokführers fuhr mir durch alle Knochen. Ich blieb wie angewurzelt neben dem Bahndamm stehen und musste zusehen, wie mein ,Bärle‘ zermalmt, zerrissen und zerstückelt wurde von den schweren Eisenrädern. Auch als der Zug schon vorbei war, stand ich wie gelähmt da, unfähig, die zerfetzten Teile zusammenzusammeln.“ „Es muss für Sie schrecklich gewesen sein, damals“, hörte ich die Frau neben mir sagen. „Ja. Es war, als ob ich einen guten Freund verloren hätte. Meine Spielkameraden halfen mir, die Überreste zusammenzusuchen, und wir beerdigten mein ,Bärle‘ dort neben dem Bahndamm. Das klingt vielleicht übertrieben, dramatisiert, aber wir haben wirklich ein kleines Grab gemacht und ich war froh, dass meine Freunde mich nicht auslachten, sondern meine Traurigkeit teilten.“ „Das tue ich auch“, sagte sie leise. „Jetzt verstehe ich, warum Sie so fasziniert waren, als Sie meinen Teddy sahen. Am liebsten würde ich Ihnen meinen Teddy geben“, fügte sie hinzu, „aber ich hänge selbst so an ihm, seit ich ihn vor zwölf Jahren von meiner älteren Schwester bekommen habe. Sie ist an Krebs gestorben und hat diesen Teddy noch im Krankenhaus für mich gemacht. Er ist mein ständiger Begleiter.“
Wie eine Wiedergeburt
Ich merkte, dass ich den kleinen Bären immer noch in meiner Hand hielt, und reichte ihn jetzt meiner Reisegefährtin hinüber. „Danke, dass Sie mir Ihre Geschichte anvertrauten“, sagte sie. – „Danke, dass Sie mir zugehört haben“, entgegnete ich. Ich fühlte mich sonderbar wohl und befreit, ja dankbar für diese Begegnung mit „Teddy und Frauchen“. Denn: Ich hatte mein geliebtes „Bärle“ wiedergefunden. In meinem Herzen.
Zur Sache
Kleiner Bär mit großen Ohren ...
... Horst Winter besang schon 1947 seinen kleinen Talisman. So ein Teddy (oder auch ein anderes Plüschtier) erobert sofort das Herz des neuen Frauchens oder Herrchens. Das gilt für Kinder genauso wie für Erwachsene: Plüschtiere werden überall geliebt. Psychologen versuchen es so zu erklären: Mit dem Plüschtier hat man immer etwas Vertrautes dabei. Besonders, wenn die Umgebung fremd ist, die Welt rundherum verrückt spielt oder wenn es darum geht, Ängste zu überwinden, hilft ein Knuddeln und Drücken. Hat man den Teddy im Arm, ist die Geschichte gleich nicht mehr so gruselig; ist die kleine Maus in der Schultasche dabei, scheint die Prüfung leichter zu gelingen; sitzt der alte Stoffdackel auf der Hutablage im Auto, fühlt man sich im Ausland nicht so fremd. Man kann dem alten Freund aber auch seine Sorgen erzählen, er wird immer geduldig zuhören. Mit dem Plüschteddy, dem Stoffhund oder der Kuschelmaus wird die Welt einfach für kurze Zeit wieder klein und in Ordnung.
Darf der Teddy aufs Sofa?
Was für Kinder selbstverständlich ist, scheint so manchen Erwachsenen peinlich. Muss es aber nicht. Menschen scheinen nämlich von Natur aus das Bedürfnis zu haben, sich mit Vertrautem zu umgeben. Und mit Dingen, die sie mit anderen verbinden. Das können Plüschtiere sein ebenso wie Fotos oder Geschenke von Freunden und Verwandten. Der Ring von der Großmutter oder ein geweihtes Amulett in der Geldbörse ist nur unauffälliger, haben aber im Prinzip die gleiche Funktion wie ein alter Stoffbär: Er vermittelt Geborgenheit und Vertrautheit. Und sollte der Besuch den alten Teddy am Sofa doch belächeln, hilft ein Zitat von Altmeister Erich Kästner: „Nur wer erwachsen wird und ein Kind bleibt, ist ein Mensch.“