Wir sind vor Weihnachten, dieser „stillen und friedvollen Zeit“. Gott wird in Jesus uns nahe kommen – und ich spreche von „Gott abgewandt“?
Gerade um Weihnachten spüren Menschen oft schmerzhafter, wenn sie Kummer haben, wenn sie einsam sind. Deshalb heute – vor Weihnachten: Es ist wohl die schwierigste Erfahrung, „Gott abgewandt“ auszuhalten. Wir kennen es in Beziehungen, wenn wir spüren, wir haben den anderen Menschen verloren. So kann es uns auch mit Gott gehen.
„Wo ist Gott? Wo ist er?“
1958 erschien das bekannt gewordene Auschwitzbuch von Elie Wiesel mit dem Titel „Nacht“, darin erinnert er das unfassbare Sterben. Zwei Erwachsene und ein Kind werden vor den Augen der anderen Mitgefangenen gehängt, die Erwachsenen schreien noch: „Lang lebe die Freiheit!“ und sterben, das Kind ist still. „Wo ist Gott? Wo ist er? fragte jemand hinter mir.“ Und Wiesel erinnert das grausame Sterben des Kindes. Es werden alle Worte relativ.
„Der sich verbergende Gott, der „El Mistater“, ist eine jüdische Vorstellung; aber diese Idee für sich allein genommen vermag Gottes Schweigen angesichts der Todesnot in den Konzentrationslagern und Krematorien keinesfalls befriedigend zu erklären“, schreibt Eliezer Berkovits. Das sich abwendende oder abgewandte Antlitz Gottes ist eine biblische Grunderfahrung. In den Psalmen wird diese Abwesenheit als „verhüllte Anwesenheit“ verstanden. Im Buch Jesaja 64, 6 beklagt sich der Betende bei Gott: „Keiner ruft deinen Namen an, keiner rafft sich auf, an dir festzuhalten. Denn du hast dein Antlitz vor uns verhüllt und uns der Gewalt unserer Schuld überlassen.“ Wenn Gott wegschaut und die Menschen ihrem Schicksal überlässt, dann – so sagen jüdische Autoren – ist Gott mitschuld am Leiden der Menschen.
Clemens Thoma redet auf dem Hintergrund des „abwesenden Gottes“ von Jesaja 64, 6 vom „verantwortlichen und schuldigen Gott“, von „Gott, der ins Leiden hineinverwickelt ist“. Andere sprechen von Gott, der leidensfähig ist, der mitleidet, der mitten unter seinem Volk wohnt – und damit bei den Opfern und Leidtragenden. Die Frage: „Wo war Gott?“ ist nicht nur an Gott gerichtet, sondern an die Täter und die Mittäter. Oder anders gesagt: Die Abwesenheit Gottes zeigt sich vor allem als Abwesenheit Gottes bei den Tätern, sie zeigt, wozu der Mensch – im Negativen – fähig ist.
Wider die Teilnahmslosigkeit
Wir glauben, dass Gott sich dem Leiden nicht entzieht, dass Gott nicht fern dem Leiden ist, sondern dass Gott mit-leidet, inmitten seines Volkes lebt und leidet. In diesem Mit-Leiden wird Gott zum Zeugen für dieses Leiden – gegen die Rechtfertigung des Leidens, gegen die Verharmlosung oder gegen das Vergessen. Wenn Gott auf der Seite derer mitleidet, die leiden, dann heißt „Nachfolge“ für Christinnen und Christen bis heute: Leiden nicht zu ignorieren oder zu verharmlosen, sondern Zeuginnen und Zeugen für die Opfer zu sein und sie zu erinnern. Christlich glauben heißt dann, nicht auf einen Gott warten zu können, der eingreifen wird, sondern selbst einzugreifen und gegen das Leiden zu kämpfen, wo immer es uns möglich ist, wo immer wir uns trauen.
Aushalten der Abwesenheit
Wir wissen, wie schmerzhaft es ist, wenn sich ein Mensch, den wir mögen, von uns abwendet, uns im Stich lässt, uns fallen lässt. Sowohl beruflich als auch in privaten Beziehungen kann uns das sehr ängstigen. In dieser Sorge fragen wir: Kann ich ohne diese Unterstützung und Zuwendung beruflich überleben? Kann ich ohne diesen Menschen mein privates Leben gestalten? Mascha Kaléko hat in einem ihrer Gedichte geschrieben: „Ich kann auch ohne dich leben. Ich weiß nur noch nicht wie.“ Sie versuchte, mit diesem Satz alle Kraft zu bündeln, um das Verlassenwerden zu ertragen. Gilt ähnliches, wenn Gott sich abwendet?
Es ist ein irritierendes Gottesbild, dass Gott sich abwendet. Es ist die Gegenbewegung zur Hoffnung im Advent, wenn wir das Kommen Gottes in unsere Welt erwarten. Gerade deshalb vor Weihnachten: Gott ist nicht immer erfahrbar und nah. Gott ist nicht nur zugewandt. Gott ist auch abgewandt. Die jüdische Theologie erinnert uns, dass wir „Gott abwesend“ aushalten müssen . . .