Je mehr abgeschlagen wird vom Stein, desto mehr wächst die Figur, die entstehen soll.
Über 40 Jahre lang lag ein großer Marmorblock in der Dombauhütte von Florenz. Ein Künstler hatte sich vergebens abgemüht, aus diesem Stein eine Figur zu schlagen. Als Michelangelo im Jahr 1501 nach Florenz gerufen wurde, bekam er den Auftrag, aus diesem verhauenen Block eine Statue zu machen. Im Laufe von vier Jahren gelang es dem damals knapp 26-Jährigen, eine Persönlichkeit aus dem Stein entstehen zu lassen, die bis heute fasziniert: David. In einem seiner Gedichte schreibt Michelangelo: „In hartem, sprödem Stein lässt allein das Abschlagen von Oberfläche eine Figur entstehen, die um so mehr wächst, je mehr Stein entfernt wird.“
Versteinertes abschlagen
Um das Abschlagen von Oberfläche, um das Entfernen von Versteinertem geht es in gewissem Sinn auch in der Bergpredigt. Besonders eindrucksvoll zeigt sich das in den „Antithesen“ (Mt 5, 21–48). Mit starken, spitzen, ungewohnt gewaltvollen „Sprachbildern“ möchte hier Jesus „Verhärtungen“ zersprengen und seine Zuhörer aus unbeweglichen Denkmustern, verkrusteten Gewohnheiten und starren Verhaltensweisen heraus befreien. Mit seinen gezielten „Wortschlägen“ legt der ehemalige Bauhandwerker zugleich aber auch ein Bild vom Menschen frei, in dem sich die weite und tiefe Menschlichkeit Gottes widerspiegelt.
Die ungewohnt-irritierenden Worte Jesu haben bis heute nichts von ihrer Aktualität und Dringlichkeit, von ihrer Dynamik und ihrem Potential für ein gelingendes Leben verloren: So richtet Jesus in der ersten Antithese („Ihr habt gehört – ich aber sage euch“) den Blick auf das eigene Denken. Frei übersetzt geht es darum: Pass auf, wie du über deinen Nächsten denkst, denn du kannst deinen eigenen Gedanken und Vorurteilen verfallen. Wenn einer einmal in einer „Schublade“ ist, dann beeinträchtigt das den gegenseitigen Umgang, dann kann der andere für einen schon „tot“ sein. Aus diesem Teufelskreis des negativen Gedankens gibt es jedoch ein Entkommen: wenn man zum anderen hingeht, den so schwierigen ersten Schritt auf den anderen hin tut und sich versöhnt. Jesus fordert demnach auf, aktiv zu leben – und nicht im abwartend Reaktiven zu erstarren.
Wenn der Mann aus Nazaret in seiner zweiten Antithese vor dem „lüsternen Blick“ warnt, dann will er aufrütteln, den ganzen Menschen in den Blick zu nehmen. Gegenüber einer eindimensionalen Sichtweise oder einem einseitigen Handeln gilt es, einen weiten Blick zu gewinnen, der dem ganzen Menschen gerecht wird, ihn nicht verzweckt und verkürzt.
Mit den Augen der Anderen
In seiner dritten Antithese wirbt Jesus für eine neue „Handlungsmaxime“: Handle so, dass du nicht nur vordergründig Gesetzen und Regelungen entsprichst (etwa den damals gewieften Scheidungsgesetzen). Wichtiger ist es, so zu leben und zu handeln, dass es auch aus der Sicht des Schwächeren (hier konkret der Frauen) stimmt. In der vierten Antithese kommt Jesus auf das Thema Authentizität und Verlässlichkeit zu sprechen. Es geht um ein Verhalten, das durch seine Aufrichtigkeit auf zusätzlich „Kleingedrucktes“ verzichten kann. In der fünften Antithese ermutigt der Nazarener schließlich, nicht auf gleicher Ebene zu reagieren. Indem unerwartet „Böses mit Gutem“ vergolten wird, kann ein Umdenken, eine Veränderung des anderen eher ermöglicht werden. Wenn Jesus in der sechsten Antithese auf die Feindesliebe und das Beten für den Feind zu sprechen kommt, dann ermutigt er damit zu einem Wagnis des neuen Blicks: Wenn ich für jemanden bete, ihn segne, dann stelle ich ihn gleichzeitig in ein anderes Licht – er ist nie mehr nur Feind.
Persönlichkeit im Entstehen
So wie Michelangelo Jahre brauchte, um aus dem mangelhaften Block eine „Persönlichkeit“ entstehen zu lassen, so werden auch wir Jahre, Jahrzehnte – ein Leben lang – brauchen, um ein tieferer und weiterer Mensch zu werden. Die „Wortschläge“ Jesu verraten, dass dieser Reifungs- und „Menschwerdungsprozess“ nicht von heute auf morgen gelingt, dass vielmehr mit „Fehlschlägen“ und „Rückschlägen“ zu rechnen ist. Dennoch: der Blick auf die faszinierende Weite, Tiefe und Menschlichkeit Gottes, der uns trotz unserer Mängel liebt, macht eine Entwicklung möglich, immer wieder aufs Neue.
Lebensfreude
„Verhärtungen“ zersprengen, befreien aus unbeweglichen Denkmustern, verkrusteten Gewohnheiten und starren Verhaltensweisen . . . Stefan Schlager, Referent für Theologische Erwachsenenbildung der Diözese Linz, verheiratet und Vater einer Tochter, wohnt in Pichl/Wels.