Wer wünscht anderen schon nicht manchmal „die Hölle“ an den Hals, wenn er Kränkung und Leid erfährt? Aber die Angst vor ebendieser „ausgleichenden Gerechtigkeit“ führt häufig zur Verdrängung der Hoffnung auf das Jenseits.
Die Szene spielt beim Letzten Gericht. Eine stinkende Bettlerin steht all jenen gegenüber, die sich jahrelang lustig über sie gemacht und sie regelrecht drangsaliert haben. Christus sagt zu ihr: „Ärger als dich, stinkender als dich hat es keinen gegeben – wenn du ihnen vergibst, werde ich vergeben.“ Darauf sagt die Bettlerin: „Mit Feuer haben sie mich gebrannt, mit Ruten geschlagen – ich klagte nicht, ich fühlte es nicht einmal. Ich habe der Kränkung nicht geachtet, jetzt aber, da über alle Schuld Gericht gehalten wird, ist es anders: Nein, ich vergebe es ihnen nicht, ich, die vielmals Sündige.“ Und so hat die Bettlerin ihre Nächsten der Verdammnis preisgegeben.
Gerechtigkeit muss siegen. Die Geschichte stammt vom russischen Schriftsteller Fiodor Dostojewskij. Sie bringt unsere Hoffnung darauf, dass es eine Hölle gibt, unmissverständlich auf den Punkt. Und sie offenbart auch die ganze Ambivalenz dieser Hoffnung. Was soll das heißen? Wir alle glauben, dass letztendlich der Gerechtigkeit Genüge getan werden muss. Wenn schon nicht in diesem Leben, so dann im jenseitigen. Der Henker soll nicht in alle Ewigkeit über Opfer triumphieren und diese auch nicht verhöhnen. Die Opfer sollen die Möglichkeit haben, zu ihrem Recht zu kommen.
Kränkungen des Lebens. Doch nicht nur das erhoffen wir, wenn wir auf die Hölle nicht verzichten wollen. Das Menschlichste an unseren Hoffnungen ist die Tatsache, dass diese auch unser Ressentiment bedienen. Und was heißt das wiederum? Tagtäglich vergiften Kränkungen mein Leben. Gebe ich mich ihnen ungehindert hin, so wird sich mein Alltag schon bald in eine „Hölle“ verwandeln. Verbittert und hasserfüllt finde ich mich zunehmend in einer Situation, wo ich mich ganz allein in der „Hölle“ glaube. Und genau das wird die Hölle auch sein. Verdränge ich aber die Kränkungen in Demut, so werden sie sich spätestens in meinen Jenseitshoffnungen zu Wort melden. Wenn über alle Schuld Gericht gehalten wird, werde ich meinen Feinden all das heimzahlen können, was ich derzeit mühsam in mich hineinfresse! Bin zwar kein „stinkender Bettler“, aber auch in meinem Leben gab es genug Menschen, die ich – wenn ich ehrlich bin – zum Teufel wünsche. Gott sei Dank also, dass es eine Hölle gibt!
Das gilt auch mir. Und da stehen mir plötzlich die Haare zu Berge. Denn: dasselbe Recht, das ich haben will, werden auch diejenigen haben, auf deren Köpfen ich „getanzt“ habe und deren Leben ich beeinträchtigt habe. Die Opfer meines Lebens! Wenn über alle Schuld Gericht gehalten wird, werden vermutlich auch sie mir nicht vergeben. Und auch ihr Ressentiment wird ein höllisches Ventil finden müssen. Um Gottes willen, schreie ich auf: hoffentlich gibt es keine Hölle! Und die Angst vor der Hölle für mich verwandelt mir nach und nach schon jetzt den Alltag zur „Hölle“. Ist das nicht eine teuflische Logik?
Verdrängte Hoffnung. Aus der Hoffnung auf die Hölle für andere wurde Angst vor der Hölle für mich selber. Und diese Angst kann die Verdrängung der Hoffnung auf das Jenseits zur Folge haben. Denn: Um sich von den Ängsten zu befreien, schafft der Zeitgenosse gleich das Jenseits ab. Er erklärt dieses zum Inbegriff von Projektionen. Und für diese sind bekanntlich die Therapeuten zuständig, sollten die Projektionen dem Menschen zu sehr zusetzen! Hat also die therapeutische Kultur das Jenseits ersetzt? Nein! Zum einen enden nicht alle Therapien im Diesseits erfolgreich. Zum anderen enden die erfolgreichen meistens dort, wie das Letzte Gericht in der Erzählung von Dostojewskij endet. Wie Christus dort, bestätigt der Therapeut letztendlich nur das, was der Mensch unter seiner Anleitung selber zustande bringt. Das tut aber Christus in seinem Gericht nicht! Am Kreuz hat er selber im Voraus verziehen und dadurch die Macht der Logik der Hölle auf den Kopf gestellt. Deswegen hoffen die Christen auch nicht auf die Hölle. Sie erhoffen das Gericht Christi! Doch das ist eine neue Geschichte.