Zur Erfüllung ihres seelischen Wohlbefindens pilgern Menschen zunehmend in Thermen statt in Kirchen. Auf der Suche nach dem Glück setzen sie auf Esoterik statt auf Kirche. Der in Rom lehrende Professor für Esoterik Michael Fuss zeigte im Bildungshaus Schloss Puchberg auf, wie verbreitet esoterische Denkweisen sind.
Was bedeutet das Phänomen Esoterik für die Kirchen? Michael Fuss: Wir leben in einer neuen religiösen Situation, wo die Kirche nicht nur den großen Weltreligionen gegenübersteht, die wir ja mittlerweile als Nachbarn an der nächsten Haustür gegenüber finden, sondern wo sich diese neue Welt der esoterischen Erfahrung auftut. Und das ist eine ganz neue Situation, weil hier sehr viele religiöse Elemente aus anderen Religionen vermischt werden – auch psychologische Techniken und Therapien, aber auch sehr viele mystische Erfahrungen. Wir müssen das sehr ernst nehmen, weil es sich hier zum größten Teil um suchende Menschen handelt, die in irgendeiner Weise den Zugang zur Kirche nicht mehr finden.
Sehen Sie eine reale Gefahr, dass die Esoterik die Kirchen verdrängt? Ich sehe es weniger als eine Gefahr, vielmehr als eine sehr ernste Herausforderung. Wir merken immer mehr, dass die Menschen einen sehr persönlichen und sehr geführten Glauben haben wollen. All das, was jahrhundertelang als mystische Tradition im Christentum immer sehr am Rande stand, das bringt die Esoterik jetzt ins Zentrum. Es braucht einfach sehr viel mehr pastorale Führung in diesem Bereich.
Wie verträgt sich die Esoterik, die das Ich vergöttlicht, mit dem Christentum? Das scheint mir tatsächlich ein wesentlicher Punkt, und deshalb spreche ich hier von einer neuen Form der Religionskritik. Diese lehnt jetzt nicht mehr von vornherein das Göttliche ab, sondern interpretiert das Göttliche in einer völlig anderen Weise, als wir es aus der christlichen Offenbarung kennen. In der Esoterik wird das Göttliche ganz stark auf das Selbst bezogen. Man versucht, mit Techniken und Therapien das Ich immer mehr zu stärken, um die Göttlichkeit, die bereits dem Menschen innewohnt, zum vollen Ausdruck zu bringen. Das ist diametral entgegengesetzt dem Christentum, wo der Mensch sich selbst wie eine offene Schale sieht, die von dem Geschenk des Lebens und der Liebe Gottes gefüllt wird.
Viele religiös interessierte Menschen haben Probleme damit, dass die Kirche stark ihre Hierarchie, die Disziplin und den Gehorsam betont. Ist das förderlich? Da würde ich tatsächlich eine Gefahr sehen, weil sich dadurch die Kirche immer mehr isoliert von den Menschen. Vielleicht verbirgt sich im Versuch einer stärkeren Kontrolle auch eine große Angst vor einer sich wandelnden Welt. Die Kirche muss sich noch mehr um den einzelnen Menschen kümmern. Die Lehre der Kirche muss in einer biografisch nachvollziehbaren Form präsentiert werden. Das muss nicht zu stärkerer Betonung der Autorität innerhalb der Kirche führen, sondern erfordert ein stärkeres Entgegengehen zu den Menschen.
Sie sprachen auch davon, dass Menschen ihre religiösen Bedürfnisse eher in Thermen als in Kirchen stillen wollen. Muss Kirche sich also dorthin begeben? Ich denke, wir sind tatsächlich wieder an dem Punkt, wo die religiöse Frage mitten in den Alltagsproblemen der Menschen aufbricht und sich in den Bereichen der modernen Kultur zum Ausdruck bringt. Von daher diese Angebote von Wellness, von Thermen oder Therapien und so weiter. Die Kirche muss da tatsächlich wieder anfangen. Ich sehe das so wie das Bemühen um „Inkulturation“ in außereuropäischen Kulturen, wo die Kirche sich in afrikanischen und asiatischen Kulturen inkulturiert. Das muss eigentlich in jeder Generation immer wieder neu erfolgen.
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Esoterik
Esoterik ist eine Art religiöses Denken, bei dem nicht Gott, sondern der Mensch selbst in der Mitte steht. Das Schicksal der Welt ist von kosmischen Kräften abhängig. Im derzeitigen „Zeichen des Wassermanns“ sieht die Esoterik die Zeit des Christentums als abgelaufen an. Hinter der sichtbaren Welt gäbe es eine Welt des Geistes, die aus der Summe aller geistigen Prozesse besteht. Mit okkulten Praktiken und durch mystische Erlebnisse könne man dieser Ebene näher kommen. Der Mensch soll durch seine Lebenspraxis zur vollendeten menschlichen Persönlichkeit werden. Er selbst sei göttlich, nimmt die Esoterik an.Ziel ist die Verschmelzung des eigenen Bewusstseins mit dem göttlichen Allgeist.Dabei werden Elemente aus Religionen übernommen und umgedeutet, so etwa die Engel oder die Lehre der Wiedergeburt. Scientology und New Age sind Ausprägungen der Esoterik.