Judas gilt in der Tradition als Verräter, gleichzeitig ist ein Evangelium nach ihm benannt. Das Judas-Evangelium zeichnet ihn als Person, die Jesus in seiner Sendung unterstützt hat. Der im 2. Jahrhundert verfasste, aber erst seit 2006 wieder zugängliche Text übt eine große Faszination aus.
Bei einer Raubgrabung 160 km südlich von Kairo in den 1970er-Jahren sind 66 Blätter aufgetaucht, die mehrere Schriften enthielten, eine davon war das Judas-Evangelium. Der Wert dieses Packens alter Texte (Codex) wird offensichtlich rasch erkannt, der Codex wird seinem Besitzer gestohlen, verschwindet dann für ein Jahrzehnt und taucht 1983 wieder in der Schweiz auf. Vergeblich versucht man, ihn an amerikanische Universitäten zu verkaufen, denen aber der Preis zu hoch ist. Schließlich ersteht die Schweizer Maecenas-Stiftung den Codex und bereitet unter größter Geheimhaltung die Veröffentlichung vor. 2006 werden die 25 Blätter des Judas-Evangeliums der Weltöffentlichkeit präsentiert.
Das Text-Puzzle. Weil der Codex auf seiner drei Jahrzehnte dauernden Odyssee sehr gelitten hat und Teile zerbröselt sind, gibt es Lücken im Text. Doch 95 bis 97 Prozent des Evangeliums konnte man bislang rekonstruieren, aber auch die verbleibenden Leerstellen sind noch wichtig, erklärt Gregor Wurst. Der Augsburger Kirchengeschichtler gehört zu der weltweit handverlesenen Schar von Wissenschaftlern, die an der Erforschung des Codex und an der Übersetzung aus dem Koptischen mitarbeiten durften. Das Judasevangelium dürfte gegen Ende des 2. Jahrhunderts verfasst worden sein, der gefundene Codex stammt vermutlich aus dem 4. Jahrhundert.
Der mutige Judas. Das Judasevangelium gibt ein Gespräch wenige Tage vor dem Tod Jesu mit den Aposteln wieder. Sie sind aber unfähig, die wahre Natur Jesu zu verstehen. Jesus bricht mit ihnen und wendet sich dem Judas zu. Die Hälfte des Textes nimmt die Unterhaltung mit Judas ein. Jesus fordert Judas auf, sich von den Jüngern zu trennen, damit er ihn in die Geheimnisse des Reiches Gottes einführen kann. Die für Jesus hilfreiche Tat des Judas besteht darin, dass er ihn verrät – als Voraussetzung für die Kreuzigung. Der wirkliche Jesus, der Geist ist, wird so vom Körper befreit und entschwindet in eine Wolke. Jesus weiß, dass Judas wegen seiner Tat dem vernichtenden Urteil der Jünger und der Nachwelt ausgesetzt werden wird. Er verspricht ihm für seine Treue aber reiche Belohnung.
Glaube bleibt der Erde treu. Das JudasEvangelium führt in eine spannungsgeladene Zeit der frühen Kirche. Eine Strömung, die sich Gnosis nennt und innerhalb wie auch außerhalb der christlichen Gemeinden Anhänger hatte, sah die Erlösung in der Befreiung des Geistes von der schmutzigen Materie. Welt und Körper mussten überwunden werden. Das wirkliche Leben lag in den himmlischen Sphären. Dieses religiöse Konzept nahm dem christlichen Glauben viel von der Sperrigkeit und Anstößigkeit, zum Beispiel dass ein gekreuzigter Verbrecher der Retter der Welt sein soll. Das Christentum wurde so vermutlich leichter unter den philosophisch Gebildeten vermittelbar. Aber die Gnosis nahm dem Glauben seine Bedeutung für das Leben auf der Erde: der bedingungslose Einsatz für den Nächsten und die Sorge um die Schöpfung Gottes. Darum konnte die Gnosis nicht zur bestimmenden Kraft in der Kirche werden. Als Versuchung, den Glauben losgelöst von den Herausforderungen der Zeit zu leben, bleibt sie aber bis heute bestehen.