Das Fußballfieber hat Europa erfasst. Die Ukraine – neben Polen Austragungsland der Fußball-Europameisterschaft 2012 – stand bereits vor Beginn der Spiele wegen Menschenrechtsverletzungen im Land unter heftiger Kritik. Andrij Waskowycz, Caritas-Präsident der Ukraine, gibt Einblicke in die Situation des Landes.
Die ersten Tore sind schon gefallen. In den neu errichteten Stadien zur Fußball-Europameisterschaft in der Ukraine herrschen Jubel und Euphorie der Fans. Ein kritischer Blick hinter die Kulissen trübt die Freude und zeigt die Schattenseiten des EM-Gastgeberlandes auf. Bereits im Vorfeld der Spiele wurde heftig Kritik geübt an Menschenrechtsverletzungen. „Ein großes Problem in der Ukraine ist, dass politische Gegner des Präsidenten Viktor Janukowitsch unter fragwürdigen Umständen verurteilt wurden und im Gefängnis sitzen, dass Prozesse geführt werden, dass politische Entscheidungen strafrechtlich verfolgt und nicht politisch beurteilt werden“, so Andrij Waskowycz, Caritas-Präsident der Ukraine. Neben der ehemaligen Ministerpräsidentin Julia Timoschenko, die 2011 wegen Amtsmissbrauchs zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt wurde und in Haft misshandelt worden sein soll, sind noch andere Minister und hohe Staatsbeamte im Gefängnis, wie der ehemalige Innenminister Juri Luzenko.
Austausch kann viel bewirken. Proteste gegen die Politik des ukrainischen Präsidenten Janukowitsch folgten. So bleibt beispielsweise die EU-Kommission den Spielen fern und die französische Regierung hat ihre Teilnahme an der EM abgesagt. „In Europa wurde viel diskutiert über den Boykott der Spiele und über das Fernbleiben von Politikern. Diese Zeichen und Haltungen sind wichtig, um zu zeigen, dass die Menschenrechte gewahrt werden müssen. Ich glaube aber auch, dass es wichtig ist, dass die Spiele stattfinden, denn so ist die Möglichkeit, Kritik zu üben, noch viel größer“, betont Waskowycz. Ganz wesentlich ist für ihn, dass die Ukraine nicht den Kontakt verliert zu den Ländern der Europäischen Union. „Die Menschen müssen sich austauschen können, müssen andere Einschätzungen und andere Lebensweisen sehen – und dieser Austausch kann sehr viel bewirken. Deswegen ist es gut, wenn die ausländischen Gäste zu den Spielen in die Ukraine kommen, die Verhältnisse im Land sehen und sich dazu äußern können. Auch die Ukrainer müssten mehr Möglichkeiten haben ins Ausland zu reisen, um zu erfahren, wie die EU aufgebaut ist, wie die Leute dort leben. Diese Werte kennenzulernen kann die Menschen motivieren.“ Die Möglichkeit des EU-Beitritts der Ukraine sollte aufrechterhalten bleiben, so Andrij Waskowycz, „denn die Perspektive des Beitritts zur EU verändert die Staaten. Und diese Perspektive könnte in der Ukraine dasselbe bewirken und dazu führen, dass das Land sich positiv verändert.“
Missstände. Die Ukraine mit rund 46 Millionen Einwohnern zählt zu den ärmsten Ländern Europas. Die Wirtschaft ist schwer angeschlagen, es mangelt an Rechtssicherheit und am Gesundheitssystem. Alte Menschen mit niedriger Rente verarmen und vereinsamen mehr und mehr. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Löhne sind gering. Wegen Perspektivenlosigkeit suchen junge Menschen oft im Ausland Beschäftigungsmöglichkeiten. Wegen der schwierigen wirtschaftlichen Situation im Land entschließen sich auch immer mehr Frauen zur Migration und werden nicht selten Opfer von Menschenhändlern. Daneben wächst die Prostitution im Land. Frauenrechtsgruppen befürchten, dass durch die Europameisterschaft der Sex-Tourismus in der Ukraine noch weiter vorangetrieben wird und protestieren zum Teil hüllenlos gegen Prostitution. Die schwierigen Lebensbedingungen führen häufig zu Gewalt in der Familie, Alkoholismus ist weit verbreitet. Viele Kinder reißen deshalb von zu Hause aus und leben auf der Straße. Die Zahl der Sozialwaisen steigt stetig und auch die Zahl HIV-Aids-Infizierter nimmt zu. Die Ukraine ist europaweit am stärksten von Aids betroffen. Die Caritas Ukraine hilft vor allem in den Bereichen Straßenkinder, alte Menschen, Frauenhandel und Aids die Not im Land zu lindern.
Korruptes Land. Neben den sozialen Missständen, den politisch motivierten Strafverfolgungen und dem mangelhaften Rechtssystem ist für Andrij Waskowycz die Korruption eines der größten Probleme im Land. „Die Korruption durchdringt den gesamten Organismus der Ukraine und lässt nicht zu, dass sich das Land entwickelt. Das hängt nicht nur damit zusammen, dass Staatsbeamte und Politiker Schmiergelder nehmen und dadurch zusätzliche Einkünfte haben, sondern das hängt auch damit zusammen, dass das gesamte System durch Gesetze und Regelungen so aufgebaut ist, dass diese zusätzlichen Einkünfte möglich sind. Reformen sind dadurch kaum durchzusetzen. Das hemmt die Politik“, sagt der ukrainische Caritas-Präsident. Es sind vor allem Wirtschaftsclans, die um die Macht kämpfen, um sich mit den Geldern des Staatshaushalts bereichern zu können. Generell gehe Korruption in der Ukraine „von ganz oben bis nach ganz unten und von ganz unten bis nach ganz oben. Es sind so viele Menschen daran beteiligt und es scheint, dass es hier notwendig ist, auch eine geistige und geistliche Erneuerung in Gang zu setzen. Ich glaube, dass die katholische Kirche durch ihre moralische Kraft Einfluss nehmen kann, indem sie auf die moralischen Grundwerte verweist und versucht, die Menschen dazu zu erziehen, dass man durch ehrliche Arbeit vorankommt.“
Prozess von unten. Durch die Orange Revolution 2004 in der Ukraine hatte die Bevölkerung des Landes große Hoffnung auf Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit. Doch die Aufbruchstimmung dauerte nicht lang. „Das große Problem während und nach der Orangen Revolution war, dass die Menschen zwar ihren Wunschkandidaten an die Macht gebracht und Demokratisierungsprozesse in Gang gesetzt haben, aber an diesem Prozess nicht teilgenommen und ihn nicht verfolgt haben. Die Kontrolle seitens des Volkes hat gefehlt. Damit war die Möglichkeit gegeben, dass auch die Leute, die durch die Orange Revolution an die Macht gekommen sind, die Macht missbrauchen und korrupt werden konnten“, so Waskowycz. Das war auch der Fall bei Julia Timoschenko, die sich als Vertreterin der Orangen Revolution für eine bessere Zukunft des Landes einsetzen wollte. Doch ihre Politik war schließlich „verbunden mit populistischen Ansätzen, mit Umverteilung, mit Korruption und nicht mit wirklichen Reformansätzen. Die Parteienlandschaft ist in Verruf geraten und die Bevölkerung hat kein Vertrauen zu den Politikern. Andrij Waskowycz ist davon überzeugt, dass heute eine Revolution des Denkens notwendig ist. „Es ist ein Prozess von unten her im Gange, der allerdings sehr langsam vor sich geht. Die Zivilgesellschaft beginnt sich zu organisieren und versucht Einfluss zu nehmen auf die Politik. Die Menschen werden sich ihrer Verantwortung bewusst. Die Kirchen versuchen stärkeren Einfluss zu gewinnen und rufen die Menschen dazu auf, sich aktiv am politischen Leben zu beteiligen und die Korruption zu bekämpfen. Ich setze große Hoffnung auf die Zivilgesellschaft.“