„Machtverlust ist vielleicht eine List des Heiligen Geistes“
Wie ist ein neuer Aufbruch in der Kirche möglich? Der Grazer Pastoraltheologe Rainer Bucher rät zu einem Umdenken: Wer sich nicht auf das Kirchenbild der letzten Jahrzehnte versteift, sieht auch Handlungsmöglichkeiten für die Zukunft.
Viele Christen erhoffen sich ein neues Pfingsten, einen Aufbruch der Kirche. Wie kann das möglich sein, wenn die Kirche an Mitgliedern und Einfluss verliert, wie in dem von Ihnen herausgegebenen Buch „Nach der Macht“ beschrieben ist? Bucher: Glaubt man der Pfingstgeschichte, besitzt der Heilige Geist drei verstörende Eigenschaften: Er weht, wo er will, er hat ein ausgesprochen freies Verhältnis zu Institutionen, Grenzen und Regeln und man erkennt ihn am ehesten an seinen Wirkungen. Als Früchte des Geistes nennt Paulus im Galaterbrief „Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Selbstbeherrschung.“ Warum also soll ein Einflussverlust der Institution Kirche dem Heiligen Geist im Weg stehen? Vielleicht ist dieser Machtverlust ja gerade eine Chance für den Heiligen Geist, vielleicht sogar einer seiner Listen? Denn es stellt sich neu die Frage: Für was sind wir eigentlich da? Als damals Pfingsten war, hatte die Kirche jedenfalls kaum „Mitglieder“, sicher keinen Einfluss und war auch einigermaßen verunsichert. Und dann wurde plötzlich vieles bislang Unmögliche möglich.
Es heißt manchmal, die Christen werden weniger, würden sich aber bewusster für den Glauben entscheiden. Gibt es nicht auch die Gefahr, dass sich Christen gesellschaftlich abkapseln? Bucher: Die Gefahr gibt es, wenn das Ende der „Volkskirche“ als einer „Kirche der Selbstverständlichkeit“ auch das Ende einer „Kirche des Volkes“ bedeuten würde. Mit „Kirche des Volkes“ meine ich eine Kirche, die „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art“ wirklich teilt, wie das Zweite Vatikanische Konzil sagt. Weil die Kirche das Volk verliert, darf sie noch lange nicht vom Volk Abschied nehmen. Denn sie ist dazu da, „Zeichen und Werkzeug der Liebe Gottes“ zu allen Menschen zu sein: Gott liebt alle Menschen, unabhängig davon, was sie glauben. Papst Franziskus ist da sehr hilfreich, denn er stellt die Kirche auf die Frage um: „Welche Kirche braucht diese Welt“? Übrigens glaube ich nicht, dass wir vor einem Entscheidungschristentum stehen. Zwar stimmt es, dass Menschen heute im Religiösen völlige Entscheidungsfreiheit haben. Doch sie nutzen sie je nach Situation und konkretem Bedürfnis. Sie treffen hier kaum mehr unverrückbare Lebensentscheidungen.
Das Kirche-Staat-Verhältnis ist in Österreich nach wie vor durch eine starke rechtliche Absicherung der Kirche geprägt. Wird sich das ändern? Bucher: Aktuell schaut es nicht danach aus. Es ist ja eher so, dass neue, wachsende Religionsgemeinschaften wie etwa der Islam in das bestehende religionspolitische System integriert werden. Das pluralisiert, stärkt aber auch dieses System. Die langfristige Schwächung der gesellschaftlichen Stellung der katholischen Kirche in unseren Breiten dürfte eher über Glaubwürdigkeitsverlust, Relevanzverlust für das konkrete Leben vieler Menschen und über rückläufige Taufquoten gehen. Grundsätzlich aber gilt: Die Kirche muss und kann ihre pastorale Aufgabe unter allen gesellschaftlichen Bedingungen leisten. Man braucht keine Angst vor dem Wandel zu haben.
Beim Thema Pfarrgemeinde herrscht Verunsicherung: Manche Diözesen bekennen sich weiterhin im Wesentlichen zur aktuellen Struktur, in anderen wird groß umgebaut. Wie geht es weiter? Bucher: Die Verunsicherung ist verständlich, es stehen ja auch wirkliche Umstellungen an. Die wichtigste: Man sollte sich nicht an der Zukunft kirchlicher Sozialformen orientieren, sondern an den Sorgen und Nöten, aber auch Freuden und Hoffnungen der Welt um uns herum. Die erste Frage wäre dann nicht: Wie bekommen wir eine lebendige Gemeinde, sondern: Was braucht die Welt von uns und was haben wir ihr zu geben? Dann erst sollte man fragen: In welchen Sozialformen ist diese Aufgabe heute am besten zu bewältigen? Da wird man dann wohl wegkommen müssen von der Konzentration auf die Pfarrgemeinde hin zu einem Netzwerkkonzept, das die vielen pastoralen Orte der Kirche, etwa auch die Caritas oder die Bildungseinrichtungen, gleichwertig miteinander in Beziehung setzt. Welches Konzept stünde hinter dieser Struktur? Bucher: Man muss sich vom Prinzip „Überschaubarkeit“, die ja immer etwas mit Herrschaft zu tun hat, verabschieden und dafür „Erreichbarkeit“, „Zugänglichkeit“, „Ansprechbarkeit“ anbieten. Hier steht der Dienst im Vordergrund. Wir sind in den letzten Jahren mühsam den Weg von der Ausgrenzung – „die anderen sind die abgefallenen Ungläubigen“ – zur Einladung – „Die anderen sollen zu uns kommen“ – gegangen. Das reicht aber nicht. Wir müssen weitergehen zum Konzept des „Sich-Aussetzens“: Wir gehen dorthin, wo man uns braucht. Denn Kirche verliert sich nicht im Außen, sondern sie findet sich dort, weil dort ihre Aufgabe, die kreative Konfrontation von Evangelium und heutiger Existenz wartet. Das alles geht natürlich weit über eine reine Strukturoptimierung entlang der zur Verfügung stehenden Priester bei gnädiger Erlaubnis der „Laienmitarbeit“ hinaus.
Die Ergebnisse einer Studie über Pfarren zeigt, dass dort kaum gesellschaftlich Benachteiligte zugehörig sind. Müssen nicht die Alarmglocken läuten, wenn Papst Franziskus eine „Kirche der Armen“ als Ideal vorstellt? Bucher: Ja. Ohne sich auf den Weg zu den Armen zu machen und die Welt aus ihrer Perspektive zu sehen, kann das Evangelium nicht verkündet und wohl nicht einmal begriffen werden. Natürlich gibt es auch Orte, etwa die Caritas, manche Ordenseinrichtungen und auch engagierte Pfarren, bei denen unsere Kirche noch Kontakt zu den Benachteiligten und Ausgeschlossenen hat. Aber wir sind weitgehend eine Mittelstandskirche geworden und die Armen finden in ihr zu wenig Platz. Ich habe drei konkrete Vorschläge: in größeren städtischen Räumen zusammen mit der Caritas eine „Diakoniekirche“ eröffnen; in allen Pfarren regelmäßig Gottesdienste mit Außenseitern und Obdachlosen gestalten; und regelmäßig Caritasmitarbeiter/innen in der Gemeinde berichten lassen, was Armut vor Ort bedeutet und wie man helfen kann.
Die Reformen von Papst Franziskus sind ergebnisoffen, haben keine festgelegte Ziele. Das erinnert an das Zweite Vatikanische Konzil. Aber ist das die Kirche heute gewohnt, ergebnisoffen in die Zukunft zu gehen? Bucher: Es ist eine Illusion zu meinen, die Kirche wäre Herrin ihrer selbst. Kirchliche Gemeinschaft bildet sich nicht mehr unter den Anweisungen ihrer Obrigkeiten, sondern nach den Vorlieben und Bedürfnissen ihrer Mitglieder. Aber Sie haben Recht: Die Kirche hatte sich spätestens ab der Mitte des 19. Jahr- hunderts vor den Dynamiken der Moderne in Selbstbilder wie „Fels“, „Burg“ oder „Haus voll Glorie“ geflüchtet. Das signalisierte Statik und Unveränderlichkeit. Demgegenüber greift das Zweite Vatikanum auf dynamische Begriffe zur Beschreibung der Kirche zurück: Sie ist hier „das wandernde Volk Gottes“. Durch die gespaltene und halbherzige Aufnahme des Konzils haben wir viel Zeit verloren. Vor allem hatte man Angst vor einer ehrlichen Analyse, offenen internen Kommunikation und mutigen Neuausrichtung von Kirche auf die anderen hin: ein entscheidendes spirituelles Defizit bei der Gestaltung von Kirche. Papst Franziskus hat einfach Recht, wenn er in „Evangelii Gaudium“ fürchtet, dass wir uns einschließen in Strukturen, die uns einen falschen Schutz geben, „in die Normen, die uns in unnachsichtige Richter verwandeln, in die Gewohnheiten, in denen wir uns ruhig fühlen, während draußen eine hungrige Menschenmenge wartet und Jesus uns pausenlos wiederholt: Gebt ihr ihnen zu essen!“
Welche Art von Pfingsten erhoffen Sie sich für die Kirche? Bucher: Dass in ihr erfahrbar wird, was in der Pfingstsequenz steht: die Weinenden werden getröstet und die Verwundeten geheilt. Und es herrscht die realistische Freude jener, die wissen, dass nichts am Menschen unschuldig ist, aber eben auch nichts von Gottes Liebe ausgeschlossen.
Hintergrund
Zur Lage der Kirche
Professor Rainer Bucher ist Herausgeber des neuen wissenschaftlichen Sammelbandes „Nach der Macht. Zur Lage der katholischen Kirche in Österreich.“ (Tyrolia-Verlag). In dem Band analysieren in Österreich lehrende Theologen die Situation der Kirche hierzulande, wobei auch die Herausforderungen durch das Pontifikat von Papst Franziskus in den Blick genommen werden. Auch wenn der Band einen sehr aufmerksamen Leser voraussetzt, ist die Lektüre in jedem Fall lohnend. Besonders verwiesen sei auch auf die Beiträge aus der Feldforschung wie die Umfrage in Pfarrgemeinden, die Teresa Schweighofer in ihrem Text präsentiert.
In seinem Buch „... wenn nichts so bleibt, wie es war. Zur prekären Zukunft der katholischen Kirche“ (Echter-Verlag 2012) analysierte Rainer Bucher die Situation der Kirche heute. Er sieht den Weg zu einer zukunftsfähigen Seelsorge in einer Rückbesinnung auf die Grundlagen, welche das Zweite Vatikanische Konzil gelegt hat.