Soziale Bewegungen erinnern Präsident Lula an Versprechen
Schrei der Ausgeschlossenen: Hände weg – Brasilien ist unser Land
Ausgabe: 2003/36, Schmid, Lula, Präsident, Brasilien, Kirche
02.09.2003 - Walter Achleitner
Acht Monate ist „Lula“ als Staatspräsident im Amt. Die Kritik am Regierungskurs des Hoffnungsträgers der Armen in Brasilia wird lauter.
Noch vor kurzem zeigte sich Luiz Inázio Lula da Silva den 175 Millionen Brasilianern als strahlender Hoffnungsträger. Doch der unerschütterliche Optimismus des Staatschefs scheint angekratzt. Denn ausgerechnet jene sozialen Bewegungen, die den Sohn einer bitterarmen Landarbeiterfamilie im brasilianischen Nordosten und ehemaligen Gewerkschafter bisher unterstützt haben, bringen ihn in Bedrängnis.Kein Tag, an dem die gut organisierten Landlosen nicht ungenutzten Boden besetzen und es auf Konflikte mit Großgrundbesitzern und deren Milizen ankommen lassen, um die von „Lula“ versprochene Landreform einzufordern. Und kein Tag, an dem die Bewegung der Obdachlosen nicht leer stehende Bürogebäude oder Wohnblocks besetzt. Sogar Volkswagen in Brasilien war betroffen. Tausende Familien siedelten über Wochen auf einem unbebauten Betriebsgelände nahe São Paulo, ehe sie unter Androhung polizeilicher Gewalt am 7. August aufgaben. „Mit diesen Aktionen“, so formuliert es der neu gegründete Dachverband sozialer Bewegungen (CMS) ironisch, „wollen wir dem Staatspräsidenten helfen, sich an seine Wahlversprechen zu erinnern.“
Um das Soziale kümmern
Waldemar Rossi von der katholischen Arbeiterpastoral in São Paulo ist eine legendäre Figur. Gemeinsam mit seinem persönlichen Freund „Lula“ kämpfte er gegen die Militärdiktatur, organisierten gemeinsam Streiks gegen die Automultis. Jetzt zählt Rossi zu den Führern von CMS, dem auch viele katholischen Organisationen angehören. „In den ersten sieben Monaten hat Lula nur die Finanzmärkte bedient“, kritisiert Rossi: „Jetzt haben wir uns zusammengeschlossen, um immer mehr Druck zu machen, damit er sich auch um das Soziale kümmert.“
Die Unzufriedenheit mit der Regierung beginnt mit Lulas politischen Bündnissen: Die von einer fundamentalistischen Sekte dominierte, rechtsorientierte Liberale Partei stellt den Vize-Staatschef: Jose Alencar, einen Milliardär und Konzernchef. Der parteilose Minister für Wirtschaftsentwicklung, Luiz Furlan, führte noch unlängst ein Großunternehmen in Familienbesitz, das jetzt Hunderte Arbeiter entlassen will. Und ausgerechnet der Arbeitsminister aus Lulas eigener Arbeiterpartei, Jacques Wagner, sagte, um die Erwerbslosigkeit werde viel zu viel Lärm gemacht; das Drama sei gar nicht so schlimm.
Das provozierte Gewerkschaften ebenso wie die Kirche. Bischof Tomás Balduino, Vorsitzender der Kommission für Landpastoral, will, dass die Regierung mit dem ererbten neoliberalen Wirtschaftsmodell bricht: „Lula macht den Finanzmärkten viel mehr Zugeständnisse als den sozialen Bewegungen. Doch diese wachsen und konsolidieren sich. Die Besetzungsaktionen zeigen es deutlich: Sie müssen sich organisieren, um ihre Rechte zu erlangen.“
Schrei der Ausgeschlossenen
Auch João Pedro Stedile von der Landlosenbewegung MST zählt zum Führungsgremium von CMS. „Die Brasilianer haben mit Lulas Wahl gegen das neoliberale Wirtschaftsmodell gestimmt“, sagt er: „Doch jetzt bedrängt das Kapital die Regierung, diesen Kurs beizubehalten.“
Dass Kirchen, Gewerkschaften und Landlosenbewegung eine große Kraft darstellen, unterstreichen sie am 7. September. Wenn am Tag der Unabhängigkeit Hunderttausende auf die Straßen gehen und landesweit rufen werden: „Hände weg – Brasilien ist unser Land!“, dann wird erneut der „Schrei der Ausgeschlossenen“ zu hören sein – und Lula bekommt ihn erstmals als Präsident im Palast von Brasilia zu hören.
Walter Achleitner/Klaus Hart
„Null Hunger“: Test steht aus
Nachgefragt
Lula hat dem Hunger den Krieg angesagt. Greift das Projekt „Null Hunger“ schon?
Schmid: Die erste Modellgemeinde dieser Kampagne liegt in unserem Bundesstaat. Wir aber haben bisher davon nichts gemerkt. Der Sommer beginnt erst, und der wird sehr trocken. Seit Ostern hat es nicht geregnet. Es wird sicher sehr kritisch. Das wird der Test, wenn das Programm zeigen muss, was es wert ist.
Die Regierung setzt dabei auf die Unterstützung der Kirche?
Schmid: Das bedeutet aber keine Abhängigkeit von ihr. Es beweist das Vertrauen, wenn die Caritas mithelfen soll, damit eine Million Familien im Nordosten ihre Regenwasserzisterne bekommen. Andererseits haben viele kirchliche Mitarbeiter von der Regierung einen Arbeitsplatz erhalten. Ihr Wechsel hat in den Diözesen große Unsicherheit ausgelöst. Sie fehlen uns jetzt.
Wie beurteilen Sie die wachsende Kritik der sozialen Bewegungen am Präsidenten?
Schmid: Auch aus Teilen der Kirche kommt Kritik. Das zeigt, dass es keine blinden Parteiidioten sind, nur weil jene Partei das Sagen hat, die sie früher unterstützt haben. Ich erlebe, dass die Leute mit der Regierung sehr zufrieden sind. Man muss Lula auch Zeit lassen. Ein System, das über 500 Jahre so gewachsen ist, kann nicht von heute auf morgen verändert werden.