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„Das Gedächtnis“, schreibt der französische Dokumentarfilmer Marcel Ophüls, „lässt sich nicht künstlich aktivieren – nicht durch Momente und nicht durch Zensur [...] Es muss ein persönliches Erinnern sein.“ – Einen dezidiert subjektiven Zugang zu einer heiklen Thematik wählte Ruth Beckermann für ihren Film „Waldheims Walzer – der heuer auf der Berlinale prämiert wurde und für Österreich ins Oscar-Rennen geht–, indem sie das Bildmaterial mit ihrer ruhigen Stimme unterlegte. Ihre Aussagen wirken aber nicht wie konventionelle bildbegleitende Kommentare, vielmehr handelt es sich um erhellende Reflexionen über das Filmemachen und über Vergangenheitsaufarbeitung.
„Waldheims Walzer“ ist ein Film, der aus bereits gedrehtem Material montiert ist. In akribischer Zusammenarbeit hat Beckermann mit Dieter Pichler und Sebastian Brameshuber mehr als 150 Stunden Archivmaterial österreichischer (ORF) und internationaler (hauptsächlich BBC) Provenienz gesichtet und ihr eigenes Material, das sie als Aktivistin gegen die Kandidatur Waldheims 1986 gedreht hat, integriert. Die zum fertigen Film kompilierten 93 Minuten bieten einerseits einen Einblick in die Mediengeschichte, als noch keine digitalen Kameras verwendet wurden, anderseits aber auch in eine wichtige Phase der österreichischen Nachkriegsgeschichte: 1986 – v. a. wegen Waldheims Präsidentschaftswahlkampf – gilt als „Scharnierjahr“ für die österreichische Politik in den darauffolgenden Jahren, vielleicht sogar bis heute. „Dank Waldheim riss der Heimatfilm“, schreibt Beckermann in einem aufschlussreichen Text in der „Presse“ vom 9. Dezember 2016, der während der Recherche zum Film entstand. Die lange kolportierte Rolle Österreichs als erstes Naziopfer wurde durch das von Waldheim gesponnene Lügennetz zum ersten Mal hinterfragt. Auch wenn es noch bis zur mittlerweile legendären Rede von Vranitzky 1991 dauern sollte, bis die Opferlüge auch offiziell aufgebrochen wurde, bereitete die Waldheimaffäre den Boden dafür. Gleichzeitig manifestierte sich aber auch das hässliche Gesicht eines nicht kleinen Teils der österreichischen Bevölkerung und zahlreicher PolitikerInnen in Form eines von Neid und Ressentiments geprägten Rassismus, der leider auch aktuell wieder Urständ feiert.
Beckermanns Film hinterfragt mentalitätsgeschichtliche Konzepte, die in gewissen historischen Phasen immer wieder strapaziert werden, aber auch den Zusammenhang von Schuld und Gedächtnis. „Bestimmt die Vergangenheit die Gegenwart, oder sucht sich die Gegenwart eine nützliche Vergangenheit aus?“, so eine der Reflexionen Beckermanns. Spannend ist der Film aber auch bezüglich dessen, was heute als „postfaktische Politik“ bezeichnet wird. Beckermann verweist in einem Interview mit Karin Schiefer auf die Reaktion junger Leute auf Material aus ihrem Film, die das Gesehene mit dem Aufstieg Trumps verglichen und von Fake News sprachen. „Waldheims Walzer“ zeigt im Schüren von Ressentiments und in der „Jetzt-erst-recht-Haltung“ für einen unglaubwürdigen Kandidaten eine Haltung, die aktueller nicht sein könnte. Die sture Weigerung, Dokumente als solche zu akzeptieren, und die eigene Stilisierung als Opfer, die sich in Verschwörungstheorien äußert – heute sitzt der Feind nicht an der Ostküste in den USA, sondern in Brüssel –, sind nur der Beweis für die Wiederkehr des immer Gleichen. Beckermanns Film ist aber auch eine bemerkenswerte Studie über den politischen Körper. Die Gestik, die Mimik, die Blicke, die Motorik der Hände und die Körperhaltung von Kurt Waldheim bieten ein faszinierendes Vokabular der perfekten Maskerade. Bezeichnenderweise endet der Film auch mit der kosmetischen Inszenierung für die erste Fernsehrede des gerade gewählten Präsidenten. «
Tipp: AK-Filmabend mit Einführung/Diskussion am 19. Oktober, 20.30 Uhr, Moviemento Linz
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