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„Das Schönste waren die weißen Hemden. Und das Schönste hob sie sich immer für den Schluss auf. Vorher kamen die Socken und die Handtücher, die leichten Hosen und [...] nicht zuletzt die Krawatten und Anzüge, die einer besonderen Vorsicht sowie einer tiefen Einsicht in das Material bedurften. Einen Anzug zu bügeln war gewissermaßen so, als bügle man den ganzen Mann, seine äußere Erscheinung, den Schatten, den er in die Welt hineinwarf und durch den er maßgeblich wahrgenommen wurde.“ – Dr. Antonia Schreiber, Tonia genannt, ist Büglerin und übt ihren Beruf mit Akribie und ernster Hingabe aus. Früher lebte die Meeresbiologin materiell bestens situiert mit Schwester und Nichte in der ererbten Villa in Wien und widmete sich der Wissenschaft. Doch dann passiert ein großes familiäres Unglück. Tonia gibt alles auf, verschenkt ihren ganzen Besitz, verlässt Wien und verdingt sich als Büglerin in Heidelberg, wo genug reiche Leute leben, die ihre Dienste schätzen. Mit dem radikalen Wandel zu einem asketischen Leben will sie sich selbst bestrafen für etwas, was sie nicht verhindern konnte.
Doch Buße und Sühne sind glücklicherweise nur ein Aspekt – und nicht der wichtigste – in dem vielschichtigen neuen Roman des in Stuttgart lebenden Wieners Heinrich Steinfest. Es geht um existenzielle Fragen, es geht um den Zufall, den es nicht gibt, und um Zusammenhänge, die erst in tiefen Schichten sichtbar werden.
Längst ist Steinfest nicht mehr nur als Krimiautor ein Begriff, sondern als ein Meister des fantastischen Realismus, der die mystischen, skurrilen und abgründigen Seiten der Wirklichkeit sprachmächtig zu beschreiben imstande ist. Wer das mag, wird sich von der „Büglerin“ mitreißen lassen und immer wieder überrascht sein.
Heinrich Steinfest, Die Büglerin, München/Berlin/Zürich: Piper 2018. 286 Seiten, € 20,60
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