Christian Landl ist Diakon und Seelsorger in den Pfarrgemeinden Schörfling, Weyregg und Steinbach am Attersee.
Alltagsreligion ist in Europa zurückgegangen, in anderen Erdteilen jedoch lebensbegleitend. Religiöse Rituale stiften auch in Europa Gemeinschaft, unabhängig von der Glaubenstiefe.
Vier streitbare Geister diskutierten diese Fragen im Stift Klosterneuburg.
Regina Polak: Religion befindet sich allgemein im Umbruch, mittendrin die Kirchen. Das Maß an traditioneller Religiosität ist eingebrochen. Es gibt aber einen zweiten, gegenläufigen Trend. Was sich Menschen unter „Glauben“ vorstellen, ändert sich, z. B. Gottesbilder und religiöse Praxis. Es gibt Interesse an spirituellen Praxisformen. Das geht mitten in die Kirchen hinein, ist nicht nur ein Randphänomen. Die Kirchenleitungen tun sich aber schwer, darauf so zu reagieren, dass die Relevanz des Katholischen neu entdeckt wird. Politisch spielen Religionsgemeinschaften eine zweideutige Rolle. Den Kampf um die Frage „Was ist die richtige Religion?“ gibt es auch heute, er spielt sich nur anders ab als früher. Die deutlichste Glaubensfrage heute ist die Frage der Geschlechtsidentitäten und der Einstellung zu unterschiedlichen Geschlechts- und Paarbeziehungen. Da nehmen wir in allen Religionsgemeinschaften fundamentalistische Strömungen wahr. Andererseits sind Religionsgemeinschaften Partner z. B. bei der Implementierung der Menschenrechte.
Lisz Hirn: Ja, die Rolle der Religionen in der Gesellschaft ist komplex. In einem Projekt mit muslimischen Jugendlichen stellen wir fest, dass Religion häufig zur Identitätsstiftung dient, aber viel religiöses Unwissen da ist. Diese Tendenz gibt es nicht nur in Europa, sondern auch in traditionell islamischen Ländern. Ich unterscheide zwischen gläubigen Menschen und solchen, die sich unter sozialem oder politischem Druck zum Beispiel ein Kopftuch aufsetzen. Diese Unterscheidung gibt es nicht nur im Islam. Aber zurzeit fällt sie dort stärker ins Gewicht als beispielsweise im Christentum.
Matthias Beck: Zur Rolle der Religion in der Gesellschaft meine ich, dass es der Religion hauptsächlich um den Einzelnen geht. Im Christentum geht es zwar auch um die Gemeinschaft, aber wesentlich stärker um die Einzelnen. Wir reden oft über die Kirche. Es geht aber gar nicht um die Kirche! Es geht um Gott und mich und unsere Beziehung. Die Gegensätze in der Kirche sind künstlich gemacht und gesellschaftlich überflüssig. Jesus war nicht katholisch, er war nicht einmal ein Christ. Er war Jude. Unser Blick soll sich also von der Kirche mehr zum Einzelnen richten. Als Arzt sage ich: Ich kann nur Einzelne behandeln. Die Einzelnen suchen ein gelingendes Leben. Das kann man zum Beispiel in den Exerzitien lernen. Wir haben das Innere der Menschen vollkommen verwahrlosen lassen. Der Atheismus ist die Folge eines schlecht vermittelten Christentums. Was haben wir daraus gemacht? Die Frage nach Kondom und Pille, reine Sexualmoral. Es ist kein Wunder, dass die Leute reihenweise aus der Kirche austreten.
Eytan Reif: Ich finde keinen einzigen Punkt, in dem ich Ihnen zustimme. In der Runde bin ich der Einzige, der nicht aus einem religiösen oder philosophischen Hintergrund kommt. Religionsvertreter wie Sie schaffen es, den Kreis zu quadrieren. Erst die Geburt des Humanismus hat den Menschen in den Mittelpunkt gebracht. Die Religion machte dann aus der Not eine Tugend und rückte auch den Menschen in den Mittelpunkt. Die Aneignung des Humanismus durch die Kirchen hat mich immer schon aufgeregt. Auch Umweltschutz war in den monotheistischen Religionen nie ein Thema. Jetzt plötzlich heißt es, „wir haben eine Verantwortung“. Das ist neu und hat mit der Geschichte der Kirche nichts zu tun. Den Nihilisten wird vorgeworfen, dass sie in einem Werterelativismus leben, das machen Religionen auch. Dort, wo Religionsgemeinschaften und Politik kooperieren oder aufeinanderstoßen, das ist eine sehr komplexe Thematik.
Hirn: Ein individuelles Glück des Einzelnen gibt es nicht. Der Begriff Glückseligkeit ist ohne Gemeinschaft, und damit ohne Politik, nicht denkbar. Das Phänomen „Aufklärung“ wird übrigens nur in Europa so positiv gedeutet, in anderen Erdteilen nicht. Aus China kommt etwa die Kritik, ob es nicht ein höheres Ziel gibt als das Glück des Einzelnen.
Polak: Die Entdeckung des Individuums geht auf die Reformation zurück. Zur Grundkonstitution der monotheistischen Religionen gehört es, dass alte Texte in neuem Licht gesehen werden. Dazu gehört auch Selbstkritik. Das ist ein normaler Entwicklungsprozess sowohl der jüdischen als auch der christlichen und islamischen Tradition. Die Aufregung verstehe ich also nicht. Matthias Beck interpretiere ich so, dass der Einzelne etwas anderes ist als das radikale Individuum. Ein einzelner Christ ist kein Christ. Der Begriff der Person steht immer in Beziehung zu anderen.
Beck: Natürlich habe ich es zugespitzt. Keiner kann ohne andere sein. Ich denke aber, dass meine katholische Tradition die Gemeinschaft überinterpretiert hat: „Die Kirche ist alles und du bist nichts.“ Der Mensch ist ein Individuum, ich selbst muss mein Leben leben und verantworten. Nach den Messen führe ich Gespräche über das Leben. Fragen nach dem Sinn des Lebens brechen auf, Fragen nach dem Leid – kann es einen Sinn haben? Die Menschen sind voller Fragen. Ich rede viel, aber ich kann auch lange zuhören. Das ist den Menschen wichtig. Rituale sind auch wichtig, sie stiften Gemeinschaft. Viele Menschen sind gar nicht mehr fähig zum Ritual. Ohne Gemeinschaft geht es aber nicht.
Reif: Ich wehre mich dagegen, dass Religion immer gut ist. Caritas und Diakonie leisten nicht als Kirche Gutes. Es sind Menschen, die Gutes tun. Steven Weinberg sagt, man braucht nicht Religion, damit gute Menschen Gutes tun, aber man braucht Religion, damit gute Menschen Schlechtes tun. Dass die Kirche Gutes tut, ist eine Fiktion, mit der man aufräumen muss. Die größte Stütze des faschistischen Kriegstreibers in der Ukraine ist die russisch-orthodoxe Kirche. Vor diesem Hintergrund ist es nicht richtig, dass nur die Jugendlichen in Österreich Ethikunterricht besuchen dürfen, die keinen Religionsunterricht haben. Religion war für die Gesellschaft noch nie so irrelevant wie heute, nächstes Jahr wird sie noch irrelevanter sein.
Polak: Sicher, Religion ist nicht an sich gut. Wann ist Religion gut? Eine große Bedeutung hat Religion für den Blick in die eigene Zukunft. Worauf dürfen wir hoffen? Ganz wenige Leute können sich im Moment vorstellen, dass die Zukunft gut wird. Auch wir haben keine billigen Happy-end-Versprechen. Aber wir haben Verheißungen. Dort, wo atheistische Konzepte Zukunftsverheißungen entworfen haben, hat es in Massenmorden geendet, sowohl im Kommunismus als auch im Nationalsozialismus.
Reif: Ich glaube, dass es einen Werteverfall gibt. Die Antwort darauf liegt aber nicht in der Religion. Ohne Religion kann man genauso gut Werteerziehung machen. Der moderne Mensch tut sich schwer damit, ein moderner Mensch zu sein. Für manche Menschen liegen Lösungen innerhalb der Religionen, für andere außerhalb.
Hirn: Es gibt nicht nur religiös oder atheistisch. Es gibt auch noch agnostisch. Viele Menschen, die in der Wissenschaft beheimatet sind, sind keine Atheisten, sondern Agnostiker. Ich bin Agnostikerin mit starkem katholischem Background.
Beck: Religion kann auch krank machen. Sigmund Freud hat den Begriff der ekklesiogenen Neurosen entwickelt. Was soll eine gute Religion bringen? Wie eine Hebamme soll sie zum Vorschein bringen, was im Menschen schon da ist. Glaube muss einen Erkenntnisfortschritt bringen. Religion muss für den Menschen da sein. Vielleicht fangen wir überhaupt erst durch den Niedergang der Kirchen an zu begreifen, was Glaube bedeutet. «
Christian Landl ist Diakon und Seelsorger in den Pfarrgemeinden Schörfling, Weyregg und Steinbach am Attersee.
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