Wort zum Sonntag
In Europa sind Juden mehr als 75 Jahre nach dem Holocaust wieder vermehrt mit Anfeindungen, Beleidigungen und Übergriffen konfrontiert. Verstärkt wird der Antisemitismus heute oft in Verbindung mit Verschwörungsmythen im Zuge der Corona-Demonstrationen.
Warum denken Sie nehmen Anfeindungen gegenüber Juden wieder zu?
Alexia Weiss: Was wir momentan im Zuge der Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen erleben, ist u. a. das Hochkommen von jahrhundertealten antisemitischen, also judenfeindlichen Bildern. Hier werden Verschwörungsmythen wieder aktiviert, die zum Beispiel an Brunnenvergiftungsgeschichten anschließen, um Juden vermeintlich als Verursacher des Virus darzustellen.
Was steckt hinter den Brunnenvergiftungen?
Alexia Weiss: Im Mittelalter, vor allem in Zeiten der Pest, wurden Juden verleumdet, Brunnen zu vergiften. Das löste damals Judenverfolgungen mit hunderttausenden jüdischen Todesopfern aus. Gleichzeitig werden solche Verschwörungsmythen nun begleitet von verqueren Erscheinungen.
So setzen sich Teilnehmer von Corona-Demonstrationen mit dem Tragen eines gelben Sterns – ähnlich dem negativ besetzten Judenstern, den die Nazis eingeführt haben, um Menschen zu stigmatisieren – gegen die Corona-Maßnahmen zur Wehr. Sich jetzt mit dem Stern zu markieren und „ungeimpft“ draufzuschreiben ist eine grobe Verdrehung von Dingen.
Man übersieht, dass damals die Leute verfolgt wurden, allein weil sie Juden waren. Sie sind vom NS-Regime gezwungen worden, den gelben Stern zu tragen, während man sich jetzt entscheiden kann, ob man sich impft oder nicht. Und auch wenn die Impfpflicht eingeführt wird und man ihr nicht nachkommt, dann gibt es eine Geldstrafe, aber es wird niemand deswegen verfolgt werden.
Mit dieser groben Umdrehung von Dingen findet immer wieder eine Verharmlosung der Judenverfolgung – Schoah oder Holocaust genannt – durch die Nationalsozialisten in den Jahren 1933 bis 1945 statt. Der nationalsozialistische, systematische Völkermord in Konzentrations- und Vernichtungslagern forderte sechs Millionen jüdische Opfer in Europa, darunter mehr als 65.000 Juden und Jüdinnen aus Österreich.
Auch in den sozialen Medien wird der Hass gegen Juden verstärkt geschürt. Warum ist Ihrer Meinung nach Antisemitismus im Netz so gefährlich?
Weiss: Weil er sich dort wie eine Lawine rassant verbreitet. Dem kann wenig entgegengestellt werden, denn die jüdischen Gemeinden in Europa, vor allem in Österreich, sind ja sehr klein. Die rund 8000 Mitglieder der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien können nicht alles auffangen und korrigieren, was da passiert. Oft kommt es eben zu verdecktem Antisemitismus.
Das Gefährliche daran ist, dass viele Leute z. B. in diversen Forengruppen zum Thema Corona mit Antisemitismus in Berührung kommen und gar nicht merken, dass das Judenfeindlichkeit ist. Wenn sich Bilder in den Kopf pflanzen, dann sind sie da und es ist sehr schwer, sie wieder rauszubekommen. Und wenn diese Bilder anknüpfen an tragische Ereignisse, die seit Generationen in einer Familie vorhanden sind und wieder Bestärkung erfahren, ist das äußerst heikel.
In Ihrem Buch „Jude ist kein Schimpfwort“ zeigen Sie u. a. auf, dass es in Österreich immer noch keinen normalen Umgang gibt mit der jüdischen Bevölkerung. Wie sieht das aus?
Weiss: Die Gemengelage an Befindlichkeiten gegenüber Jüdinnen und Juden ist sehr facettenreich. Das betrifft nicht nur den Antisemitismus, den es leider gibt. Wir begegnen auch einer übertriebenen Vorsicht den Juden gegenüber und einer Hemmschwelle, Dinge konkret anzusprechen oder offen Fragen zu stellen, aus Angst, diskriminierend zu sein. Es gibt auch eine Art der Überhöhung, indem Juden auf ein Podest gestellt oder über Gebühr umarmt werden.
Eine weitere Facette ist, dass jüdische Einrichtungen wegen der Gefahr vor Anschlägen und Übergriffen stark kontrolliert und beschützt werden müssen, was natürlich sehr wichtig ist. Aber all das zeigt: Es herrscht immer noch keine Normalität.
Welchen Umgang würden Sie sich wünschen?
Weiss: Ein Zeichen von Normalität wäre, wenn es keine Hemmschwelle mehr gäbe, z. B. auch in die jüdische Buchhandlung zu gehen oder in den koscheren Supermarkt, ohne zu hinterfragen, ob das gestattet ist. Natürlich darf man hineingehen. Ich habe ja auch keine Berührungsangst, wenn ich in Wien in einem türkischen oder einem asiatischen Supermarkt etwas kaufe.
Es wäre schön, wenn eine Synagoge – das gilt auch für Moscheen – genauso problemlos dastehen kann wie eine evangelische oder eine katholische Kirche. Immer wieder kommt mir auch dieses Denken in den eigenen Kategorien unter. Es ist nicht jedes Gotteshaus eine Kirche und es ist nicht jedes Fest im Winter Weihnachten. Wichtig ist, das aufzubrechen. Das jüdische Gotteshaus ist eine Synagoge, das christliche Gotteshaus ist eine Kirche. Und wir Juden feiern Chanukka, das Lichterfest, das um die Weihnachtszeit herum stattfindet.
Die Bandbreite jüdischen Lebens in Wien ist vielfältig. Es gibt unterschiedliche jüdische Gruppen, verschiedene liturgische Riten und es gibt religiöse Strömungen wie etwa das orthodoxe Judentum ...
Weiss: Ja, vom Ritus her sind in Wien alle Synagogen orthodox bis auf eine – die von Or Chadasch. Trotzdem gibt es natürlich unter den in Österreich lebenden 10.000 bis 15.000 vor allem in Wien lebenden Juden auch frommere und weniger fromme. Die Hauptsynagoge ist der Stadttempel in der Seitenstettengasse.
Interessant ist, dass Wien im Vergleich zu anderen europäischen Städten eine Infrastruktur hat, die orthodoxes jüdisches Leben überhaupt erst ermöglicht. Wir haben Schulen, Synagogen, es gibt ausreichend Versorgung mit koscheren Lebensmitteln und Restaurants, es gibt Mikwot, also rituelle Tauchbäder, und sogar eine Perückenmacherin.
Laut jüdischem Glauben ist das Bedecken der Haare für Frauen vorgeschrieben. Viele orthodoxe Jüdinnen folgen diesem Gebot und tragen daher oft Perücken, Scheitel genannt, statt Kopftüchern oder Hüten, und jüdische Männer, die orthodox leben, Kippot, kleine Kappen.
Wie könnte das Zusammenleben zwischen den verschiedenen Religionen gut funktionieren?
Weiss: Einerseits mit dieser alten Geschichte vom gegenseitigen Respekt, aber durchaus auch dadurch, dass man sich traut, Fragen zu stellen, ins Gespräch zu kommen und dass man gegenseitiges Interesse zeigt. Der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, Oskar Deutsch, veranstaltet deshalb einmal im Jahr einen Tag der offenen Tür.
Darüber hinaus gibt es u. a. jährlich ein Sommerfest, wenn nicht gerade Corona ist, das an unterschiedlichen Orten stattfindet, etwa im Arkadenhof des Rathauses oder am Judenplatz. Dazu sind alle Menschen herzlich eingeladen. «
- Buchtipp: Alexia Weiss „Jude ist kein Schimpfwort“, Verlag Kremayr & Scheriau, 2021, Euro 22.
„Die Gemengelage gegenüber Jüdinnen und Juden ist sehr facettenreich. Das betrifft nicht nur den Antisemitismus. Wir begegnen auch einer übertriebenen Vorsicht den Juden gegenüber und einer Hemmschwelle, Dinge konkret anzusprechen oder offen Fragen zu stellen, aus Angst, diskriminierend zu sein.“
Alexia Weiss
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