Wort zum Sonntag
Den Montag, 6. Februar wird Roula Mistrih aus Aleppo nicht vergessen. Um 4 Uhr 17 Minuten begann alles zu wackeln. Und es hörte und hörte nicht auf.
Sie ist mit ihrem Mann und ihrer Tochter aus der Wohnung im 5. Stock hinunter vors Haus gelaufen. Hinein in den Schneeregen. Auf der Straße befanden sich schon Leute, die allermeisten im Pyjama, oftmals barfuß.
Familie Mistrih blieb unverletzt, ihr Wohnhaus wurde beschädigt, Risse und Spalten zeugen von der Katastrophe, aber die Räume sind inzwischen so recht und schlecht bewohnbar. Andere hatten weniger Glück.
Vermutlich können in Aleppo rund 200.000 Menschen aktuell nicht in ihre Wohnungen zurückkehren. Das schwerste Erdbeben in der türkisch-syrischen Grenzregion seit 1939 hat schreckliche Schäden hinterlassen.
Nach mehr als einem Jahrzehnt von Bürgerkrieg, Bombardements, Flucht und Vertreibung und dem alltäglichen Kampf ums nackte Überleben bleibt eine effektive, staatlich organisierte Hilfe ein frommer Wunsch. Umso wichtiger sind Inseln der Hoffnung, wie die Franziskanerpfarrei in Aleppo eine ist.
Dorthin hat sich auch die Familie Mistrih unmittelbar nach dem Beben durchgeschlagen. Die Ordensbrüder hatten auf ihrem Areal nur Schäden an den Fassaden zu verzeichnen und hatten unverzüglich ihren Pfarrsaal und die Gruppenräume, die allesamt relativ sicher im Tiefparterre liegen, geöffnet. Hunderte Menschen sind nach und nach eingetroffen, als Besitz nur das, was sie am Leib trugen.
Roula Mistrih begann unverzüglich zu arbeiten. Sie ist die Projektkoordinatorin der Pfarre und managt seit zwei Jahren die umfangreichen Hilfsaktivitäten der Franzikaner von Aleppo.
Daher steht sie auch in regelmäßigem Kontakt mit der ICO-Initiative Christlicher Orient aus Linz. „Was wir 2021 bei Errichtung einer Suppenküche für die Pfarre nicht wissen konnten: Sie ist jetzt noch mehr als bisher zum Segen für abertausende Menschen geworden. Sie ist eine Hilfe zum Überleben“, sagt ICO-Projektkoordinator Stefan Mair.
Um gegen die sinkende Wirtschaftsentwicklung und die steigende Not vor allem für alte Menschen und kinderreiche Familien etwas zu tun, haben die Franziskaner eine Großküche einrichtet. 1.200 Mahlzeiten konnten dort mit kräftiger Unterstützung aus Deutschland und Österreich täglich verteilt werden. Nach dem Beben geht es jetzt aber um völlig andere Größenordnungen. An Spitzentagen wurden mehr als 5.000 einfache, aber warme Mahlzeiten zubereitet – verteilt selbstverständlich an alle, die in Not waren.
Roula Mistrih ist Tag und Nacht im Einsatz. Es schmerzt sie, dass für die eigene Familie kaum Zeit bleibt, aber die Arbeit nimmt kein Ende. Die Managerin Roula blickt im Telefongespräch mit der Kirchenzeitung mit bewundernswerter Konsequenz nach vorne, aber einen Rückblick kann sie doch nicht unterlassen.
In den Tagen nach dem Beben schaute sie oft und oft auf die Handy-App, auf der weltweit die Routen der Flüge als dünne Linien verzeichnet sind, die aktuell durchgeführt werden.
Über der Südwesttürkei war rasch ein dichtes Netz von Flugbewegungen zu sehen, während der Luftraum über Syrien eine leere, weiße Fläche blieb: „Das war eine schlimme Erfahrung. Da haben wir uns wirklich von Gott und der Welt verlassen gefühlt.“
Aber die Solidarität der Mitchrist:innen aus vielen Ländern gibt ihr Kraft.
Die Tage unmittelbar nach dem Erdbeben übernachteten rund 500 Menschen in der Pfarre. Da manche Familien die Stadt verlassen haben und zu Verwandten ziehen konnten, andere sich nach Abklingen der meisten Nachbeben in ihre Wohnungen zurückgewagt haben, ist die Anzahl der Nächtigungen im Klosterkomplex deutlich gesunken.
Für die Verbleibenden werden die Franziskaner an ihrem zweiten Standort am Stadtrand Wohnkojen in den großen Hallen bauen, die sich dort befinden.
Obwohl die Nothilfe noch nicht abgeschlossen ist, versuchen de christlichen Kirchen den vielfach geschockten Menschen zu helfen, damit sie wieder in die Zukunft schauen können. Die sieben christlichen Kirchen von Aleppo haben sich unter Vorsitz des Apostolischen Nuntius Kardinal Mario Zenari darauf verständigt, die Wiederaufbauphase rasch anzugehen.
Sie werden die Instandsetzung der Wohnungen nach gemeinsamen Standards in Angriff nehmen. Seit Tagen sind bereits unter Federführung der Franziskaner Ingenieurteams unterwegs, um die Erdbebenschäden der Häuser und Wohnungen zu begutachten und die Statik der Gebäude zu überprüfen, um rasch mit den erforderlichen Reparaturmaßnahmen starten zu können. So soll es nach und nach Familien ermöglicht werden, möglichst bald wieder in die eigenen vier Wände zurückkehren zu können.
Am Sonntag, eine Woche nach dem Beben, hat die Franziskanerpfarre Messe gefeiert. Die Predigt war für den Oberen P. Bahjat Karakach eine Herausforderung: „Beim Gottesdienst etwas über das Erdbeben zu sagen, ist nicht einfach. Wenn man meditiert, was die Katastrophe bedeuten könnte, dann kann nur dies die Antwort sein: Wir müssen handeln, wir müssen zu den Händen Gottes werden, hier und jetzt. Unsere Antwort ist eine existenzielle Antwort.“
Weitere Informationen:
www.christlicher-orient.at
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