Dr. Mira Stare ist Bibelwissenschaftlerin an der Kath.-Theol. Fakultät Innsbruck und Pfarrkuratorin in der Diözese Innsbruck.
Wie lange, Herr, soll ich noch rufen und du hörst nicht? Ich schreie zu dir: Hilfe, Gewalt! Aber du hilfst nicht. Warum lässt du mich die Macht des Bösen sehen und siehst der Unterdrückung zu? Wohin ich blicke, sehe ich Gewalt und Misshandlung, erhebt sich Zwietracht und Streit. Der Herr gab mir Antwort und sagte: Schreib nieder, was du siehst, schreib es deutlich auf die Tafeln, damit man es mühelos lesen kann! Denn erst zu der bestimmten Zeit trifft ein, was du siehst; aber es drängt zum Ende und ist keine Täuschung; wenn es sich verzögert, so warte darauf; denn es kommt, es kommt und bleibt nicht aus. Sieh her: Wer nicht rechtschaffen ist, schwindet dahin, der Gerechte aber bleibt wegen seiner Treue am Leben.
Mein Sohn! Ich rufe dir ins Gedächtnis: Entfache die Gnade Gottes wieder, die dir durch die Auflegung meiner Hände zuteilgeworden ist! Denn Gott hat uns nicht einen Geist der Verzagtheit gegeben, sondern den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit. Schäme dich also nicht des Zeugnisses für unseren Herrn und auch nicht meiner, seines Gefangenen, sondern leide mit mir für das Evangelium! Gott gibt dazu die Kraft: Als Vorbild gesunder Worte halte fest, was du von mir gehört hast in Glaube und Liebe in Christus Jesus! Bewahre das dir anvertraute kostbare Gut durch die Kraft des Heiligen Geistes, der in uns wohnt!
In jener Zeit baten die Apostel den Herrn: Stärke unseren Glauben! Der Herr erwiderte: Wenn ihr Glauben hättet wie ein Senfkorn, würdet ihr zu diesem Maulbeerbaum sagen: Entwurzle dich und verpflanz dich ins Meer! und er würde euch gehorchen. Wenn einer von euch einen Knecht hat, der pflügt oder das Vieh hütet, wird er etwa zu ihm, wenn er vom Feld kommt, sagen: Komm gleich her und begib dich zu Tisch? Wird er nicht vielmehr zu ihm sagen: Mach mir etwas zu essen, gürte dich und bediene mich, bis ich gegessen und getrunken habe; danach kannst auch du essen und trinken. Bedankt er sich etwa bei dem Knecht, weil er getan hat, was ihm befohlen wurde? So soll es auch bei euch sein: Wenn ihr alles getan habt, was euch befohlen wurde, sollt ihr sagen: Wir sind unnütze Knechte; wir haben nur unsere Schuldigkeit getan.
Kommt, lasst uns jubeln dem Herrn,
jauchzen dem Fels unsres Heiles!
Lasst uns mit Dank seinem Angesicht nahen,
ihm jauchzen mit Liedern!
Kommt, wir wollen uns niederwerfen,
uns vor ihm verneigen,
lasst uns niederknien vor dem Herrn,
unserm Schöpfer!
Denn er ist unser Gott, wir sind das Volk seiner Weide, die Herde, von seiner Hand geführt.
Würdet ihr doch heute auf seine Stimme hören!
Verhärtet euer Herz nicht wie in Meríba,
wie in der Wüste am Tag von Massa!
Dort haben eure Väter mich versucht,
sie stellten mich auf die Probe und hatten doch mein Tun gesehen.
Im kurzen Lesungstext ist die Intensität, mit der Timótheus für sein Zeugnis für Jesus von Paulus ermutigt wird, verdichtet. „Entfache die Gnade Gottes wieder!“ Timótheus soll sich der Gnade, die ihm für seine Sendung durch Paulus zuteilgeworden ist, bewusst sein. Er soll sie entfachen, brennen und wirken lassen. Er soll sich nicht des Zeugnisses für Jesus schämen. Diese Aufforderung knüpft an die Aussage des Paulus aus dem Römerbrief an: „Ich schäme mich des Evangeliums nicht: Es ist eine Kraft Gottes zur Rettung für jeden, der glaubt“ (Röm 1,16).
Das Evangelium – das Wort Gottes – ist nach dem Römerbrief die rettende Kraft Gottes. Ähnlich wird im 2. Timótheusbrief die Kraft dem Geist, den wir von Gott empfangen haben, zugeschrieben: Denn dieser ist nicht ein Geist der Verzagtheit, sondern der Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.
Nicht nur Timótheus wird mit diesem Brief angesprochen, sondern auch jede und jeder von uns. Diese Worte gelten auch uns: Entfache die Gnade Gottes, gib dem Geist Gottes Raum im eigenen Leben. Leide für das Evangelium Gottes mit Jesus – gemeinsam mit zahlreichen anderen Zeuginnen und Zeugen! Bewahre das anvertraute kostbare Gut! All das kann in der Kraft des Heiligen Geistes, der in uns wohnt, geschehen.
Auch wir brauchen uns des Evangeliums Jesu und des Zeugnisses für ihn nicht zu schämen. Vielmehr sollten wir in Jesus und seinem Evangelium das uns anvertraute kostbare Gut und Quelle der Kraft entdecken. Nicht sich schämen, sondern für das Evangelium und seine Botschaft mitleiden, brennen und sie wirken lassen!
Dr. Mira Stare ist Bibelwissenschaftlerin an der Kath.-Theol. Fakultät Innsbruck und Pfarrkuratorin in der Diözese Innsbruck.