Aus dem neuen Buch von Alt-Bischof Reinhold Stecher
Ausgabe: 2000/47, Stecher
21.11.2000 - Kirchenzeitung der Diözese Linz
Noch nie ist mir ein Gespräch so schwer gefallen. Wenn ich in deinen Kreis trete, stehe ich im Nebel. Ich rede ins Dunkel und hör dich aus dem Dunkel. Es gibt Leute, die dich sogar ablehnen. Das Geheimnis, sagen sie, sei nichts anderes als eine Ausrede für das, was man nicht weiß. Die Menschen vor 3000 Jahren haben hinter Blitz und Donner unerklärliche Phänomene gewittert. Heute haben wir die Dinge durchschaut und es nicht mehr nötig, dahinter göttliche Geheimnisse zu vermuten. Und so, sagen diese in der Naturwissenschaft Versierten, sei es in allem. Deshalb verweisen sie dich in das Gebiet der Träumerei, der tröstenden Illusionen und des Aberglaubens.Geheimnis: Ich weiß, dass es Menschen gibt, die mit mir nichts anfangen können. Das hat viele Gründe. Aber man darf darüber nicht vergessen, dass sie manchmal auch dazu beigetragen haben, dass man mich nicht am falschen Ort sucht. Ich bin nicht einfach ein Name für das, was man noch nicht weiß. Ich bin kein Lückenbüßer für ungelöste Rätsel. Ich bin – hinter den Dingen, die man messen kann.
Vielleicht überschätzen manche das menschliche Wissen, weil es sich im letzten Abschnitt der Menschheitsgeschichte so rasend schnell entfaltet hat. Aber nüchtern betrachtet, ist das menschliche Wissen ein winziges Atoll im Ozean des Nichtgewussten und Unbekannten. Und wenn die kleinen Korallentierchen, die Menschen, auch emsig an der Errichtung neuer Bänke des Wissens arbeiten und so die Ufer des Atolls weiter ins Meer hinausschieben – das menschliche Wissen wird doch immer nur eine kleine Insel bleiben. Das wird sich auch in tausend Jahren nicht ändern. Der französische Nobelpreisträger Jacques Monod hat gesagt, der Mensch sei nichts anderes als eine winzige Ameise am Rande eines grenzenlosen Universums, das ihm auf keine einzige seiner Fragen eine Antwort gäbe … Geheimnis: Im Bild der winzigen Ameise liegt ein Hauch jener Bescheidenheit, die die modernste Wissenschaft sehr oft auszeichnet. Aber Monod sagt noch etwas – dass die winzige Ameise Fragen hat, die offenkundig auch vor Lichtjahrmilliarden nicht Halt machen. Damit ist die Ameise Mensch auf einmal keine Ameise mehr. Letztere hat auch im kunstvollsten Bau und in einer glänzenden Organisation keine Fragen. Erinnern die hartnäckigen Fragen des Menschen nicht daran, dass die Tatsache des Durstes ein Hinweis dafür ist, dass es irgendwo auch Wasser geben muss? Es sind die Fragen nach dem Woher und Wohin des Lebens, nach dem Tod. Woher komme ich, wohin gehe ich? Welchen Sinn hat das Leid? Und wohin soll das Herz in der Freude fliegen? Bin ich wirklich nur ein winziges Stückchen Zufall? Und was ist mit dem Dunkel des Bösen? – Die Fragen bleiben.
Aber es gibt viele, die diesen Fragen ausweichen. In den Ton- und Lichtgewittern von Diskotheken, im Rausch des modernen Amüsements, in den Ekstasen eines Fußballstadions, in der Hektik der Börse, im vordergründigen Kulturgeschwätz und im seichten Geplauder der Talkshows, im Alltagsstress – hast du da wirklich noch Chancen? Geheimnis: Vergiss nicht, dass Betäubte nur schlummern. Auch in dieser auf Oberflächlichkeit getrimmten Welt gibt es Augenblicke, in denen sie auftauchen, die Fragen: Wenn die große Freude da ist, über eine erlebte Liebe oder ein neugeborenes Kind, oder in den dunkleren Stunden, wenn du den Verlust eines Menschen erlebst oder wenn sie dich in die Intensivstation schieben. Ich erlebe bei den Menschen viele Grenzerfahrungen.
Glaubst du nicht, dass du für viele Menschen letztlich etwas Fremdes, Unheimliches, ja Drohendes bist? Vergiss bitte nicht, wir sind sehr angstgeprägte Lebewesen … Geheimnis: Ich muss dich daran erinnern, dass mein Zeichen in der Heiligen Schrift die lichte Wol- ke ist. Erinnere dich an jenen Mor- gen am See Genezareth, an dem die erste Sonne durch den Dunst geschimmert hat. Oder weißt du noch, wie im Rosengarten im Nordgrat der Rotwand die hellen Wolkenschleier um die Felstürme gezogen sind? Erinnere dich an die Wolke über der Ebene in Frankreich, die mit den gleißend hellen Rändern im Westen gestanden ist, und wie die Strahlen aus ihr hervorgeschossen sind, hinein in die Weite des Himmels? Das ist mein tröstliches Firmenzeichen. Ich bin verborgen, aber was ich verberge, heißt nicht Schrecken. Jeder kann mir mit den Schwingen des guten Willens und des Vertrauens entgegenfliegen.
Ich weiß, dass ich am Ende dieses Gespräches für dich genauso wenig zu fassen bin wie am Beginn. Aber ich, das letzte und tiefste Geheimnis des Daseins, das eigentlich das Wort „Geheimnis“ allein verdient, ich möchte dich nicht als einen Verängstigten zurücklassen. Auch wenn ich für die Welt immer Wolke bleibe – das ver- halten durchschimmernde Licht ist mein Begleiter. Einmal kommt die Stunde, in der du nicht mehr über mühsame Gespräche mit mir Kontakt aufnehmen wirst, über Reflexionen, Bilder und Vergleiche. Über allen Wolken der Welt wird alles anders sein. Bis dorthin heißt es glauben, vertrauen, hoffen, lieben und schweigen.
Darum will ich mit meinen verwegenen und ungeschickten Fragen aufhören und schaue lieber der hellen Wolke nach, die jetzt gerade übers Karwendel zieht …
Der vorliegende Text ist dem neuen Buch von Alt-bischof Reinhold Stecher entnommen: Werte im Wellengang. Ungewöhnliche Interviews. 160 Seiten mit 17 Aquarellen des Autors, S 248,–. Tyrolia-Verlag.