Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern – mit dieser Bitte spricht Jesus eine Wirklichkeit an, die zwar oft verleugnet wird, aber nichtsdestoweniger unser Leben bestimmt. Wer gibt schon gerne zu, dass er Schuld auf sich geladen hat oder anderen etwas schuldig geblieben ist. Neigen wir nicht dazu, die Schuld anderer sehr genau zu sehen, die eigene Schuld aber zu verdrängen oder zu verharmlosen? Jesus bringt es auf den Punkt: „Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht? Wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Lass mich den Splitter aus deinem Auge herausziehen! – und dabei steckt in deinem Auge ein Balken?“ (Mt 7, 3–4). Jesus spricht diese Heuchelei so direkt an, weil er um die Folgen verdrängter und verleugneter Schuld weiß. In der Geschichte von der Heilung des Gelähmten kommt dies klar zum Ausdruck. Vier Männer bringen einen Mann, der nicht mehr gehen kann, auf einer Bahre zu Jesus. Er aber sagt zur Überraschung der Zuhörer: „Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben!“ (Mk 2, 5). Schuld und Sünde, die nicht vergeben oder gar verdrängt sind, haben Lähmung zur Folge. Das sieht Jesus. Er spricht von Vergebung der Sünden, ehe er das Heilungswort spricht, dass der Gelähmte wieder gehen kann.
Sünde und Schuld
Wenn Jesus im Vaterunser dazu einlädt, um Vergebung der Schuld zu bitten, dann geht es um das Gelingen des Lebens. Die Möglichkeit, von dem uns von Gott zugedachten Weg abzuzweigen und eigene Wege zu gehen, gehört offensichtlich zur Grundausstattung des Menschen. Im Paradies macht Gott den Menschen zwar darauf aufmerksam, dass eine Missachtung der göttlichen Wegweisung fatale Folgen haben wird, aber er verhindert nicht, dass Adam die verbotene Frucht nimmt und sie seiner Frau Eva reicht. Sonst hätte es nie und nimmer ein freies Ja des Geschöpfes zu seinem Schöpfer gegeben. Was Gott jedoch erstaunlicherweise tut, ist, dass er seine schützende und bergende Hand nicht zurückzieht. Vielmehr schenkt er den aus dem Paradies herausgefallenen Menschen die Verheißung, dass das Böse nicht das letzte Wort haben wird.
Ein Gott der Vergebung
Wir Menschen haben die Möglichkeit, Böses zu tun und tun es auch. Daraus ist eine Schuldverstrickung entstanden, aus der sich niemand mehr aus eigener Kraft herauswinden kann. Es gibt, so sagt man heute manchmal, „Strukturen des Bösen“, in die wir verwickelt sind, ob wir das wollen oder nicht. Und diese verleiten von neuem dazu, den Weg des Egoismus und des eigenen Vorteils zu gehen, ohne auf andere oder auf die guten Weisungen Gottes Rücksicht zu nehmen. Schuld und Schuldigwerden gibt es aber nicht bloß im eigenen Leben und am Leben der anderen, sondern auch Gott gegenüber. Das nennt die Bibel „Sünde“. Gibt es da noch Rettung?
So wenig die Bibel eine Verharmlosung von Sünde und Schuld kennt, so sehr betont sie, dass Gott ein Gott der Vergebung ist, der immer bereit ist, neues Leben zu schenken, auch dort, wo ein Mensch sein Leben verpatzt hat. In beeindruckenden Texten künden die Propheten von der Vergebungsbereitschaft Gottes. Ezechiel hat uns das tröstliche Wort aufbewahrt: „Habe ich etwa Gefallen am Tod des Schuldigen – Spruch Gottes, des Herrn – und nicht vielmehr daran, dass er seine bösen Wege verlässt und so am Leben bleibt?“ (Ez 18, 23). Jesus hat uns die Vergebungsbereitschaft Gottes in der Gestalt des barmherzigen Vaters nahe gebracht, der den reuigen Sohn umarmt, noch ehe er sein Schuldbekenntnis gesprochen hat. Ein Fest des Lebens wird dann gefeiert.
Vergebung unter Menschen
Vergebung ist für Jesus nicht nur ein Geschehen zwischen Gott und dem schuldig gewordenen Menschen, sondern auch eine zwischenmenschliche Notwendigkeit. Wenn wir einander vergeben, dann leuchtet zum einen Gottes Barmherzigkeit in dieser Welt auf, und zum anderen werden Lähmungen in unseren zwischenmenschlichen Beziehungen geheilt. Alte Schuldscheine werden zerrissen, belastende Hypotheken gelöscht und ein Neubeginn im Miteinander ermöglicht.
Impuls für die Woche:
Ich versuche mich daran zu erinnern, wann mir zum letzten Mal eine Beichte oder auch die Teilnahme an einer Versöhnungsfeier so richtig gut getan hat.
Ich denke an Situationen, in denen ich von einer inneren Lähmung befreit wurde, weil mir andere Menschen Vergebung und damit neue Lebenschancen geschenkt haben.
Ich frage mich, ob es Menschen gibt, die darauf warten, dass ich aufhöre, ihnen alte Dummheiten nachzutragen.