Leider ist mir das kleine Ding verloren gegangen. Ich habe es viele Jahre aufbewahrt. Aber in Zeiten der Cremes, Schäume und Elektrorasierer braucht man Rasierseifen und Rasierseifenbehälter nicht mehr. Im Zuge irgendeiner Übersiedlung ist er wahrscheinlich im Müll gelandet. Aber während des Krieges hat man die immer kostbarer werdende Rasierseife in einer kleinen etwas schäbigen und verbeulten Blechdose mit einem runden Drehverschluss aufbewahrt. Und um diesen kleinen, fleckigen und glanzlosen Aluminiumdeckel handelt es sich. Im Gestapogefängnis achtete man streng darauf, dass Häftlinge, die sich derart staatsbedrohender Verbrechen wie die Vorbereitung einer Wallfahrt zu Schulden hatten kommen lassen, isoliert blieben und keinen Kontakt miteinander hatten. Aber selbst die perfekteste Organisation des Staatsterrors litt hie und da unter Irrläufen der Bürokratie – und so kam es, dass ich mit meinem Freund und „Komplizen“, dem jungen Priester Georg, zusammengesperrt wurde. Unsere Freude über das Wiedersehen in der Zelle nach den zermürbenden Verhören war groß.Es kam noch ein zweiter Glücksfall dazu. Unter den Wächtern war auch ein älterer ehema-liger österreichischer Polizist, der als überzeugter Katholik ganz auf unserer Seite stand und uns – wohl unter Lebensgefahr – manch guten Dienst tat. Wenn er bei einbrechender Nacht Dienst hatte, öffnete er heimlich die Zellentür und plauderte leise mit uns. Sobald unten die Türschlüssel der überprüfenden Kontrolle der SS rasselten, brüllte er zu uns herein: „Es muss absolute Ruhe herrschen! Das nächste Mal melde ich euch!“ Dann schlug er höchst effektvoll die Tür zu, ließ den Schlüssel rasseln und vermittelte so dem Chef den Eindruck, dass er das strengste Regiment führte. Man kann nicht mit Worten ausdrücken, wie wunderbar es ist, inmitten einer derartigen Welt auf so viel Menschlichkeit zu stoßen. Mein Freund Georg hatte eben die Priesterweihe hinter sich, ich war Theologiestudent in den ersten Semestern.
Eines Tages brachte besagter menschenfreundlicher Polizist (der später im Dienst umgekommen ist) ein kleines Päckchen mit etwas Weißbrot und einem Marmeladeglas. Das waren an sich schon seltenste Kostbarkeiten. Aber in dem Weißbrot steckten Hostien und im Marmeladeglas ein kleines Fläschchen mit Messwein. Und so konnten wir nach vielen Wochen der Einzelhaft daran denken, miteinander Eucharistie zu feiern. Das Kanongebet konnte Georg auswendig, ein Evangelium brachten wir auch aus dem Gedächtnis zusammen, sogar das Hohe Lied der Liebe aus dem ersten Korintherbrief als Lesung. Es gab in der Zelle einen winzigen Klapptisch – er musste als Altar dienen. Als Altartuch genügte ein Taschentuch. So blieb nur noch die Frage des Kelches. Wir hatten nichts anderes als eben den genannten Rasier-seifendosendeckel.Allerdings war eine liturgische Probe ungewöhnlicher Art notwendig. Da das Öffnen der Zellentür wegen der doppelten Sperre immer einige Sekunden dauerte, mussten wir unbedingt trainieren, alle Spuren mit blitzschnellen Handgriffen zu beseitigen. Im Fall der Entdeckung wären wir sofort ins KZ überstellt worden. Ich musste mich mit dem Hinterkopf gegen den Spion lehnen, sodass von außen unmittelbar nichts zu sehen war, und dann übten wir das rasche Verschwinden-Lassen. So feierten wir Eucharistie unter dem winzigen Gitterfenster.
Viele heilige Messen habe ich in meiner langen Priesterlaufbahn gefeiert, in schönen Kirchen über prachtvollen Altären, auf Bergspitzen und Waldwiesen, mit Schulklassen und Wallfahrern, in Gemeinden und auf Großfesten, feierliche Pontifikalmessen und Papstmessen im großen Kreis der Bischöfe und Priester. Dabei habe ich Kelche in der Hand gehabt, die Wunderwerke der Goldschmiedekunst waren, mit blitzenden Edelsteinen und kostbaren Medaillons. Ich habe heilige Messen erlebt im bunten Farbenspiel hoher Glasfenster und mit der Musik von Mozart, Beethoven und Haydn unter den Kuppeln und Gewölben. Aber immer wieder gehen meine Gedanken zurück zu dem Klapptisch, der Gitterfensterbeleuchtung und dem ängstlichen Lauschen auf das Schlüsselrasseln im Gang – und zu dem Rasierseifendosendeckel; ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass in dieser bedrohten Ärmlichkeit das Geheimnis des Abendmahls mit einer nie mehr erlebten Wucht präsent war.Vielleicht verstehen Sie jetzt, warum mir es um den Rasierseifendosendeckel, der das größte Mysterium der Welt umschlossen hat, Leid tut, obwohl ich sonst von Erinnerungsstücken nicht viel halte.