Wenn sich ein Volk auf einmal von einer anderen Seite zeigt.Sind das nun seine Wesenszüge oder ist es bloß Kehrseite aus einer Übellaunigkeit? Ein Leitartikel von Matthäus Fellinger.
Ausgabe: 2016/18, Leitartikel
03.05.2016
Einerseits, andererseits. So wägt man ab, wenn es um Entscheidungen geht. Dinge haben eine andere Seite, von Menschen kennt man sie auch. Da hat man jemanden kennengelernt: humorvoll, zuvorkommend, charmant. An einem anderen Tag begegnet einem derselbe Mensch übelgelaunt, mürrisch und abweisend. Wer ist er nun wirklich? Das haben Menschen so an sich: dass man nie jemanden mit einem einzigen Wesenszug beschreiben kann. Es braucht ein langes Kennenlernen, eine Vertrautheit, um erahnen zu können, was nun die verlässliche Seite und was Kehrseite ist. Es gibt wohl auch die Seite, die ein Mensch selbst nicht so recht an sich mag – und er schämt sich. Vielleicht trifft diese Anders-Seitigkeit nicht nur auf den einzelnen Menschen zu, sondern auf einen Gutteil der Gesellschaft – dass sich ein Volk auf einmal von einer anderen Seite zeigt. Und es ist schwer zu sagen: sind das nun seine Wesenszüge oder ist es bloß Kehrseite aus einer Übellaunigkeit? Manchmal bricht die andere Seite im Guten durch, wie man es gar nicht für möglich gehalten hätte. Vor einer Katastrophe und danach. Vor einer Wahl und danach. Es sind dieselben Leute. Auf die andere Seite darf man auch hoffen.