In Gesprächen begegne ich immer wieder Menschen, die mit ihrer Lebensgeschichte hadern. Sie fühlen sich benachteiligt gegenüber andern Menschen. Sie haben in der Kindheit nicht die Geborgenheit erlebt, die sie erhofft hatten. Der Vater hat sie übersehen, weil er mit seiner Arbeit beschäftigt war. Die Mutter konnte sich zu wenig auf die Kinder einlassen, weil sie an sich selber genug zu verarbeiten hatte.
Zur eigenen Geschichte stehen
Verletzungen aus der Kindheit tauchen immer wieder vor ihren Augen auf. Manche bleiben ihr Leben lang auf der Anklägerbank sitzen und werfen den Eltern, den Lehrern, der Kirche vor, dass sie ihr Leben nachhaltig beschädigt haben. Oft genug benutzen sie die Anklage als Vorwand, um sich um die Verantwortung für das eigene Leben zu drücken. Es ist immer bequemer, andere anzuklagen, als selbst zu leben mit dem, was ich durch meine Geschichte mitbekommen habe. Doch wenn ich mein Leben lang Opfer bleibe, wird von mir kein Segen ausgehen. Ich werde immer unzufrieden bleiben und an mir und meiner Wahrheit vorbei leben.
Der erste Schritt der Versöhnung besteht daher darin, mich mit meiner eigenen Lebensgeschichte auszusöhnen. Statt andere anzuklagen sage ich mir: Das ist meine Geschichte. Ich habe Schönes erlebt. Aber es gab auch Verletzungen und Kränkungen. Aber auch sie haben mich stärker werden lassen. Sie haben mich heraus gefordert, mich auf den Weg zu machen und an mir zu arbeiten. Ich habe von den Eltern gesunde Wurzeln mit bekommen. Aber manches an meinem Lebensfundament ist auch brüchig. Ich muss beides anschauen und mich damit aussöhnen. Wenn ich mich mit meinen Verletzungen aussöhne, werde ich erkennen, dass sie bei allem Schmerz auch etwas Kostbares in sich bergen. Hildegard von Bingen sagt, das Gelingen der Menschwerdung hänge davon ab, dass unsere Wunden zu Perlen verwandelt werden. Dort, wo ich empfindlich bin, bin ich auch empfindsam. Dort werde ich behutsamer mit andern umgehen. Und dort, wo ich meine Wunden spüre, bin ich auch aufgebrochen für meine eigene Wahrheit.
Die Verletzungen brechen meine Masken entzwei, hinter denen ich mich so gerne verstecken möchte. Sie bringen mich in Berührung mit meinem wahren Kern. Und sie öffnen mich für Gott.
Versöhnung mündet in Dankbarkeit
Wenn ich meine Wunden Gott hinhalte, werden sie zu dem Ort, an dem ich Gott auf neue und tiefere Weise erfahre. Ich erlebe ihn als den wahren Arzt meiner Seele. Die Verletzungen halten mich lebendig. Sie hindern mich daran, nur oberflächlich dahin zu leben. Sie geben meinem Leben Tiefe.Versöhnung mündet in der Dankbarkeit. Ausgesöhnt mit mir selbst vermag ich für die einmalige Geschichte zu danken, die mein Leben darstellt.
„Wenn ich meine Wunden Gott hinhalte, werden sie zum Ort, an dem ich Gott auf tiefere Weise erfahre.“
Aus Wunden werden Perlen
- Setze dich still vor eine Kerze, vor eine Ikone oder in die Kirche.
- Stelle dir vor, dass Gottes heilende und liebende Nähe dich umgibt.
- Und dann denke vor den wohlwollenden und liebenden Augen Gottes über deine Lebensgeschichte nach.
Was fällt dir ein? Wofür bist du dankbar? Welche schmerzlichen Erlebnisse kommen dir hoch?
- Halte die Wunden Gott hin. Stelle dir vor, dass Gottes Liebe in deine Wunden dringt und sie verwandelt.
- Von Gottes Liebe berührt hören die Wunden auf zu schmerzen. Sie dürfen sein. Sie werden zu Perlen, die dich schmücken. Dann bitte um den Geist der Versöhnung, damit du ja sagen kannst zu dir, so wie du durch deine Lebensgeschichte geworden bist.
Vergeben heißt gut leben
Anselm Grün zur Fastenzeit: Leibhaftig erklären, anders leben zu wollen
„Vergebung gelingt nicht auf Knopfdruck“, beruhigt Anselm Grün. Der Mönch erklärt den Zusammenhang zwischen Fastenzeit und Versöhnung.
Pater Anselm, in Ihrer Serie für die Kirchenzeitung verbinden Sie die Fastenzeit mit der Versöhnung. Worin liegt für Sie der Zusammenhang?
Grün: Die Fastenzeit ist seit jeher eine Versöhnungszeit. Fasten selber ist ein Zeichen von Umkehr. Menschen erklären „leibhaftig“, dass sie anders und besser leben wollen, dass sie vor allem mit sich selbst im Einklang sein wollen. Ich denke, das ist auch ein wesentlicher Aspekt von Versöhnung: sich selber zu finden und andere Wege zu gehen.
Im Wirtschaftsleben steht das Sich-Durchsetzen im Vordergrund. Versöhnung entspricht nicht gerade diesem Zeitgeist. Was raten Sie Menschen, die sich schwer tun mit dem Vergeben und Versöhnen?
Grün: Wer nicht vergeben kann, dem würde ich als Erstes ans Herz legen Geduld zu haben und sich Zeit zu lassen. Vergebung kann nicht auf Knopfdruck funktionieren. Aber ich würde ihr oder ihm schon auch sagen: „Wenn du dich in deinen Groll vergräbst, schadest du dir selber.“ Es zerreißt einem die Seele. Vergebung ist etwas Therapeutisches – du kannst nur gut leben wenn du vergeben kannst. Wenn du dem anderen so viel Macht gibst, dann tut das deiner Seele einfach nicht gut.
Wie schaut aus Ihrer Sicht der erste Versöhnungsschritt aus?
Grün: Wichtig ist, dass man zuerst über Verletzung redet. Die eigenen Verletzungen zu erkennen und sie auszusprechen ist wichtig. Wichtig ist auch die Bestätigung, dass die erlittenen Verletzungen nicht einfach zu ertragen sind. Danach würde ich den Menschen fragen, ob er sich von diesen Verletzungen für immer abhängig machen will, oder möchte er sich davon befreien? Dabei geht es nicht um Moral nach dem Motto: „Du musst vergeben“. Wichtig ist zu vermitteln – Du musst selbst mit dir gut umgehen, damit dich die Last der Vergangenheit nicht niederdrückt und vom Leben abhält.
Interview: Paul Burtscher
Fastenimpuls
Am Montag, dem 14. Februar, fragt Anselm Grün beispielsweise: „Warum fällt es uns so schwer, uns selbst zu vergeben? Offensichtlich gibt es in uns die Illusion, als ob wir unser Leben lang mit einer weißen Weste herumlaufen könnten. Und wir möchten vor uns selbst und vor andern gut dastehen. Unser Perfektionismus lässt keine Fehler zu. Und wenn sie uns doch unterlaufen, dann werden wir zum unbarmherzigen Richter über uns.“