Eine alte Handschrift wird im Tempel gefunden. Der König, erschüttert über die Worte des Buches, geht zu Hulda, um bei der prophetisch Begabten Auskunft einzuholen.
GERHARD LANGER
Auf exakt acht Einträge stößt, wer mit einem Suchprogramm die Einheitsübersetzung nach dem Begriff „Prophetin“ durchforstet: Mirjam (Ex 15, 20), Debora (Ri 4, 4), Hulda (2 Kön 22, 14 und 2 Chr 34, 22), Noadja (Neh 6,14), die Frau des Jesaja (Jes 8, 3), Hanna (Lk 2, 36) und eine falsche Prophetin Isebel (Apk 2, 20). Kein üppiger Befund. Dazu kommen noch die in Ez 13, 17 genannten prophetisch redenden Frauen, die vier Töchter des Philippus, in der Apostelgeschichte als prophetisch begabte Jungfrauen geschildert (21, 9), prophetisch redende Frauen in 1 Kor 11, 4 (im Kontext der bekannten Frage nach Bedeckung des Haares). Dass solche „Randfiguren“ in die Mitte rücken, ist wichtig und ich freue mich, diese Gelegenheit hier in dieser Reihe zu haben.
Zweifellos die meisten der so genannten Propheten und auch Prophetinnen gab es zur Zeit des alten Israel im Umkreis der politischen Eliten, also des Hofes. Sie hatten die Aufgabe, Gottessprüche anlässlich von kritischen Situationen wie Kriegen oder Katastrophen zu äußern oder staatstragende Zeremonien wie Inthronisationen zu begleiten. Ihre Aufgabe war die Vermittlung und Sicherung des „Schalom“, eines Friedens im Sinne einer harmonischen und friedlichen Staatssicherung und des Fernhaltens von Unheil. Die Forschung bewertete diese Figuren häufig negativ, man bezeichnete sie als angepasst und unkritisch. Doch zeigt gerade das Beispiel der Prophetin Hulda, dass dieses Bild einseitig ist.
Prophetin mit Haushalt
Über Hulda erfahren wir etwas im 2. Königsbuch und der Parallele 2 Chronik: Hulda wirkt als Prophetin in den 20er Jahren des 7. Jahrhunderts v. – offensichtlich in dringenden Fällen von zu Hause aus! Zumindest wird sie von allerhöchster Stelle in ihrem Haus in der Neustadt aufgesucht, um den König zu beraten, als ein bislang unbekanntes geheimnisvolles Buch im Tempel gefunden wird, das ihn tief bewegt. Dieses Buch enthält Anweisungen zum Leben mit Gott, die offensichtlich nicht befolgt worden waren. Aber der König, es ist der 640 v. geborene Joschija, ist nun bereit, dies zu verändern.
Hören wir den Text (2 Kön 22, 14–23, 3): „Da gingen der Priester Hilkija, Ahikam, Achbor, Schafan und Asaja zur Prophetin Hulda. Sie [. . .] wohnte in Jerusalem in der Neustadt. Die Abgesandten trugen ihr alles vor, und sie gab ihnen diese Antwort: So spricht der Herr, der Gott Israels: Sagt zu dem Mann, der euch zu mir geschickt hat: So spricht der Herr: Ich bringe Unheil über diesen Ort und seine Bewohner, alle Drohungen des Buches, das der König von Juda gelesen hat. Denn sie haben mich verlassen, anderen Göttern geopfert und mich durch alle Werke ihrer Hände erzürnt. [. . .] Sagt aber zum König von Juda, der euch hergesandt hat, um den Herrn zu befragen: So spricht der Herr, der Gott Israels: Durch die Worte, die du gehört hast, wurde dein Herz erweicht. Du hast dich vor dem Herrn gedemütigt, als du vernahmst, was ich über diesen Ort und seine Bewohner gesprochen habe: dass sie zu einem Bild des Entsetzens und zum Fluch werden sollen. Du hast deine Kleider zerrissen und vor mir geweint. Darum habe ich dich erhört – Spruch des Herrn. Ich werde dich mit deinen Vätern vereinen, und du sollst in Frieden in deinem Grab beigesetzt werden. [. . .] – Sie berichteten dies dem König.“
König Joschija steht ziemlich einzigartig in der Geschichte da, tut er doch, was Gott ihm durch den Mund einer Frau Prophetin aufträgt. So heißt es weiter: „Er ging zum Haus des Herrn hinauf mit allen Männern Judas und allen Einwohnern Jerusalems, den Priestern und Propheten und allem Volk, jung und alt. Er ließ ihnen alle Worte des Bundesbuches vorlesen, das im Haus des Herrn gefunden worden war. Dann trat der König an die Säule und schloss vor dem Herrn diesen Bund: Er wolle dem Herrn folgen, auf seine Gebote, Satzungen und Gesetze von ganzem Herzen und ganzer Seele achten und die Vorschriften des Bundes einhalten, die in diesem Buch niedergeschrieben sind. Das ganze Volk trat dem Bund bei.“
Anerkannte Autorität
Wäre also die Prophetin Hulda nicht gewesen, hätte der König wohl nicht so gehandelt. Jetzt aber steht Joschija als großer Held und Erneuerer, als Begründer der großen Reform da, die das gesamte frühe Judentum prägen sollte. Nicht wenige Ausleger haben die Auffindung des Buches als eine fromme Lüge bezeichnet, mit der Joschija seine Reform „untermauern“ wollte. Aber auch dann wäre die Autorität der Prophetin Hulda so groß gewesen, dass ihre Bezeugung der Echtheit des Dokuments und seiner Wirkkraft allgemein anerkannt war.