Alle Jahre wieder werden in der Advent- und Weihnachtszeit bei den Gottesdiensten die altbekannten Lesungen aus dem Buch Jesaja vorgetragen. Dass die Texte aber alles andere als verstaubt sind, zeigt P. Hans Eidenberger vom Bibel-Bildungshaus Greisinghof: Mit dem Propheten Jesaja kann man stets neu überraschende Seiten an Gott entdecken.
„Seht, die Jungfrau wird ein Kind empfangen, sie wird einen Sohn gebären, und sie wird ihm den Namen Immanuel geben, das heißt: Gott mit uns“ (Jes 7,14). Diesen Satz aus dem Buch des Propheten Jesaja bezieht der Evangelist Matthäus auf Maria und Jesus. Ist der Satz wirklich eine Vorhersage auf die Geburt Jesu? P. Hans Eidenberger: Jesaja bezieht sich in diesem Kapitel 7 auf eine ganz konkrete geschichtliche Situation: die Eroberung Jerusalems durch die Babylonier. Die Stadt liegt zum Großteil in Trümmern und ein Teil der Bewohner ist schon im Exil. Für den verbliebenen Rest schickt Gott ein Hoffnungszeichen: Ein neugeborenes Kind soll der Bevölkerung die Gewissheit geben, dass Gott auch in menschlich aussichtsloser Situation bei ihnen ist. Der Prophet Jesaja hat damit nicht vorhergesagt, dass sich seine Worte 600 Jahre später mit der Geburt Christi erfüllen werden.
Wie kam der Evangelist Matthäus dann aber auf die Idee, den Jesajatext mit Jesus zu verbinden? Für Matthäus und die ersten Christen waren die Ähnlichkeiten mit den Menschen zur Zeit des Propheten Jesaja zum Greifen nahe: Sie waren eine kleine Schar, in einem Land, das von fremden Mächten besetzt wurde. Die Lage war menschlich gesehen aussichtslos. Für Matthäus stellte das Jesajabuch eine Hilfe dar, die Bedeutung Jesu zu erkennen und seinen Zeitgenossen verständlich machen zu können. Der Begriff Immanuel – Gott mit uns – erweist sich dabei als Schlüssel. Im Licht von Tod und Auferstehung wurde Matthäus klar, dass Jesus nicht nur das Zeichen der Nähe Gottes ist, sondern in Jesus Gott selbst zu den Menschen gekommen ist. Damit ist Matthäus natürlich kühn über den wörtlichen Text des Jesajabuches hinausgegangen.
Was kann Christen heute an Jesus besonders deutlich werden, wenn sie ihn Immanuel nennen? Der Gottesname Jahwe bedeutet „Ich bin da“. Jahwe, der „Ich-bin-da“, ist nun gleichsam ident geworden mit Jesus, dem Immanuel, dem „Gott-mit-uns“! Die Verheißung von Jesaja in solch einer Weise in Erfüllung gehen zu sehen, war ohne Zweifel ein kühner Glaube der ersten Christen.
Nochmals zurück zum Alten Testament und wie Matthäus es verwendet: Liest er da nicht etwas hinein anstatt heraus? Die Bibel ist Offenbarung Gottes – für alle Zeiten. Im Wort Offenbarung schwingt für mich auch der Aspekt „offen bleiben“ mit. Nur so kann Gott und seine Botschaft immer neu entdeckt werden. Um dieses tiefere Eindringen in die „offenen“ Zusagen Gottes, wie wir sie im Alten Testament finden, haben sich der Evangelist Matthäus und alle anderen Autoren der Bibel bemüht. Matthäus zeigt – so wie Paulus – intensiv die Verwurzelung Jesu in den Schriften des Volkes Israel auf. Und er gewinnt damit sehr viel. Ein Beispiel soll das verdeutlichen: Jesse war der Vater von König David. Wenn nun Jesus als Wurzel Jesse bezeichnet wird, heißt das klar, dass Jesus in seiner Person einen Herrschaftsanspruch als König stellt – einen ungeheuren: die Herrschaft Gottes. Aber die Begründung geht wesentlich weiter, tiefer als zunächst erahnbar. Die Wurzel Jesse wird zum Symbol für seine Gottverwurzeltheit. Jesus ist der Messias, der Gottes-Repräsentant, weil er als gottverwurzelter Mensch lebt. Das ist sein göttlicher Herrschaftsanspruch.
Der Prophet Jesaja spricht von einer Jungfrau, die ein Kind empfangen wird. Die Christen nennen Maria, die Mutter Jesu, „Jungfrau“. Wie ist das zu verstehen? Im Blick auf den Propheten Jesaja wird klar: Die Nähe Gottes kann sich kein Mensch selbst erwirken. Sie ist Geschenk, also Gnade. Gott bleibt unverfügbar. Was in diesem Zusammenhang Jungfräulichkeit bedeutet, möchte ich anhand eines Kunstwerkes verdeutlichen. In der Kirche am Greisinghof – wo ich lebe – ist Maria ohne Arme dargestellt. Keine Arme zu haben bedeutet: Nicht ich ergreife Gott, sondern ich werde von Gott ergriffen. Jesus ist „reines“ Geschenk Gottes, das Maria nur glaubend annehmen kann. Jungfräulichkeit ist vor allem eine theologische Aussage. Das Dogma, dass „Maria stets wirklich Jungfrau geblieben ist“, hat den Sinn, diese theologische Aussage über Jesus als dem Geschenk Gottes abzusichern. Zentral ist die unverfügbare Erwählung Marias und die geschenkhafte Menschwerdung Gottes. Ob und wie dieses heilige Ankommen Gottes beschrieben werden kann, ist zweitrangig.
Im Zusammenhang mit der Geburt Jesu sagen wir, dass das Alte Testament „erfüllt“ ist. Ist es nun „erledigt“? Können wir es also „abhaken“? Das wäre ein großes Missverständnis. Wenn wir an die Lesung aus dem Propheten Jesaja in der Heiligen Nacht denken, wo Jesus als Friedensfürst bezeichnet wird, wird klar, dass das Alte Testament nicht erledigt ist. Wir müssen das jüdische Volk sehr ernst nehmen, wenn es fragt: Wie kann Jesus dann der Messias sein, wenn auf Erden kein Frieden ist? Wir Christen glauben, dass Jesus der Friedensfürst ist, aber dass die Vollendung seines Reiches noch aussteht. Und so lange sind die Verheißungen des Alten Testaments nicht erledigt, sondern bleiben ein Stachel – auch für uns als Kirche. Denn warum ist es uns nicht mehr gelungen, Frieden zu bringen, ja warum haben Religionen in ihrer Geschichte so viel Unfrieden gestiftet? Wir beginnen erst heute langsam zu verstehen, welche Bedeutung der Friede und die Gerechtigkeit für das Überleben der Menschheit haben. Prophetie ist nie bloße Zukunftsvorhersage, sondern eine Herausforderung, an den Verheißungen Gottes mitzuarbeiten.
Zur Sache
Jesaja – sieben Meter Ermutigung
Die sieben Meter lange Schriftrolle mit dem gesamten Text des Propheten Jesaja gehört zu den nationalen Heiligtümern des Staates Israel. Die Rolle ist das Prachtstück unter den unzähligen Schriften, die ab 1947 in Höhlen am Toten Meer bei Qumran gefunden wurden. Sie stammt aus dem 2. Jahrhundert vor Christus und ist um tausend Jahre älter als die bis dahin bekannten hebräischen Bibelhandschriften. Doch nicht nur das hohe Alter, sondern der Inhalt macht sie so bedeutsam. Die Botschaft des Propheten Jesaja begleitet und inspiriert das Volk Israel und die christlichen Kirchen bis heute. Und darüber hinaus auch Menschen, die mit Bibel und den Kirchen wenig am Hut haben. Jesaja hat die Friedenssehnsucht der Menschheit in die Worte gefasst, die unübertroffen sind: „Dann schmieden sie Pflugscharen aus ihren Schwertern und Winzermesser aus ihren Lanzen. Man zieht nicht mehr das Schwert, Volk gegen Volk, und übt nicht mehr für den Krieg“ (Jes 2,4).
P. Hans Eidenberger
(geb. 1960, aus Hirschbach) gehört dem Orden der Marianisten an und ist Rektor am Bildungshaus Greisinghof (Tragwein). Sein Arbeitsschwerpunkt ist die Bibelpastoral und darüber hinaus ist er Bibelgärtner: Er betreut Österreichs einzigen Bibelgarten, der sich auf einem Hektar um das Bildungshaus erstreckt.