Mit Spannung wird in den Vereinigten Staaten von Amerika erwartet, wer am 8. November das Rennen um das Amt des US-Präsidenten machen wird und Barack Obama nachfolgt. Das Niveau im Wahlkampf sei nicht gerade hoch und auch Religion spiele dabei keine markante Rolle, sagt der katholische Sozialethiker Kurt Remele.
Ausgabe: 2016/44
31.10.2016 - Susanne Huber
Ethik und Moral scheinen im Wahlkampf abhandengekommen zu sein. Wie sehen Sie das?
Kurt Remele: Ethik und Moral haben einen Tiefpunkt erreicht und auch Religion spielt bei diesen US-Wahlen keine besondere Rolle. Durch das Fernsehen und die neuen sozialen Medien hat sich im Laufe der Zeit der Charakter von Wahlen verändert. Um Erfolg zu haben, müssen die Kandidaten als Selbstdarsteller fungieren. Zunehmend sind die Werbebotschaften kürzer geworden. Es kommt nicht darauf an, sachlich zu debattieren, sondern seine Botschaft und auch seine Lügen in kurzen Soundbites publikumswirksam zu vermitteln. Es gibt keine differenzierte Diskussion über Themen wie Krankenversicherung, Waffenbesitz oder Einwanderungspolitik. Es ist nicht mehr möglich zu sagen, in diesem oder jenem Punkt hat der Gegenkandidat ein Stück weit Recht. Es geht darum, den anderen niederzumachen.
Warum spielt Religion so eine geringe Rolle bei den Wahlen?
Kurt Remele: Die USA sind zwar immer noch ein religiöseres Land als alle europäischen Gesellschaften, außer vielleicht Polen, aber an sich geht der Trend weg von organisierter Religion. Bei den meisten jungen Leuten hat sie zunehmend immer weniger Stellenwert. Dreißig Prozent der unter 30-Jährigen in den USA gehören schon keiner Religionsgemeinschaft mehr an und erklären sich als Religionskomponisten, die ihre Weltanschauung aus verschiedenen Bestandteilen zusammenstellen. Auch die Zahl der Atheisten steigt in den USA.
Wie kann man sich erklären, dass Donald Trump trotz seiner frauenverachtenden Äußerungen nach wie vor Unterstützer hat?
Kurt Remele: Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass weiterhin für viele rechtskonservative Christen, darunter viele Evangelikale, aber auch Katholiken, die gesetzliche Freigabe der Abtreibung, die Eheschließungsmöglichkeit homosexueller Menschen und die Einschränkung des Waffenbesitzes die weitaus größten, sogar einzigen gesellschaftlichen Übel darstellen. Diese Anliegen, so meinen sie, sind bei Trump besser aufgehoben. Aber auch andere Bevölkerungsgruppen, etwa Multimillionäre, stehen hinter ihm.
Dazu zählen sicher nicht die Hispanics, die Einwanderer aus Lateinamerika …
Kurt Remele: Nein, sie wurden von ihm durch seine rassistischen Äußerungen verleumdet. Deshalb haben sich viele von ihnen zusammengetan, um gegen Trump zu protestieren und ihn zu verhindern. In den Südstaaten allerdings, wo Kohleabbau betrieben wird, der durch Obama und auch Clinton wegen der Klima- und Energiepolitik gestoppt werden soll, sind die Betroffenen für Trump, der ihnen Arbeitsplätze zugesichert hat. Das sind vor allem die Modernisierungsverlierer, die durch den sozialen und ökonomischen Strukturwandel Geschwächten. Sie hoffen, dass Trump sich als Wirtschaftsgenie erweist, Mauern baut, abschottet und dadurch Arbeitsplätze sichert. Wobei das Anliegen, Arbeitsplätze zu sichern, die Wirtschaft zu stärken, sich für genügend Auskommen einzusetzen, haben beide Kandidaten im Programm, aber in unterschiedlichen Kontexten.
Wie schätzen Sie die Haltung der katholischen Bischöfe im Hinblick auf den Wahlkampf ein?
Kurt Remele: Die meisten der katholischen Bischöfe in den USA sind von beiden Präsidentschaftskandidaten nicht besonders begeistert. Interessant ist, dass sich bei vergangenen Wahlen vor allem rechtskonservative katholische Bischöfe oft sehr stark in den Wahlkampf eingemischt haben, genau geschaut haben, welche Aussagen machen die einzelnen Kandidaten zu verschiedenen Themen wie Abtreibung, Homosexuellen-Ehe und Verhütungsmittel auf Krankenschein. Das scheint jetzt nicht der Fall zu sein.
Womit hängt das zusammen?
Kurt Remele: Einerseits mit der Person Trump. Diesmal wird den katholischen Bischöfen stärker bewusst, es kommt nicht nur auf die Themen an, sondern auch auf die Persönlichkeit des Präsidenten, dem man zutraut, dass er ein Land führen kann und auch weltpolitisch kein großes Risiko darstellt. Es geht auch um eine Tugendethik. Insofern hat selbst eine beträchtliche Anzahl an konservativen Leuten und sogar Republikanern Vorbehalte gegen Trump, weil er eine unberechenbare Persönlichkeitsstruktur hat, die für einen Präsidenten nicht unproblematisch ist.
Und andererseits?
Kurt Remele: Es hängt auch mit einem gewissen neuen Akzent zusammen, den der Papst durch seine Bischofs- und Kardinalsernennungen gesetzt hat. Heuer im Oktober entschied sich Papst Franziskus, den Erzbischöfen Blase Cupich von Chicago und Joseph Tobin aus Indianapolis die Kardinalswürde zu verleihen, dem erzreaktionären Erzbischof von Philadelphia, Charles Chaput, aber nicht. Er korrigiert damit die Linie seines Vorgängers. Cupich und Tobin vertreten innerkirchlich eine reformoffene Position, und wie Papst Franziskus setzen sie sich für die Rechte von Menschen auf der Flucht ein.
Sie halten derzeit eine Lehrveranstaltung über die US-Präsidentschaftswahl 2016. Zu Ihren Studenten/innen zählen auch US-Amerikaner/innen. Wie ist deren Sicht auf die Wahlen?
Kurt Remele: Auch bei den jungen Leuten fehlt es an Enthusiasmus für einen Kandidaten. Das war bei der Wahl Obamas vor acht und vor vier Jahren ganz anders. Sehr viele junge Menschen hoffen, dass Trump verhindert wird und sie werden Hillary Clinton wählen. Sie sagen, wir dürfen keine psychisch und politisch problematische Person zum Präsidenten wählen. Clinton garantiert doch, dass die USA auf der Bahn fortfahren, die in den letzten acht Jahren beschritten wurde, nämlich ein offenes, liberales Land zu bleiben mit einer gewissen grundsätzlichen Sozialgesetzgebung. Diese ist jedoch meiner Meinung nach immer noch sehr mangelhaft in den Vereinigten Staaten, aber durch Obama zumindest im Gesundheitsbereich etwas besser geworden. Clinton will das fortsetzen.
Wer denken Sie wird gewinnen?
Kurt Remele: Es schaut ganz nach Hillary Clinton aus. Sie ist eine erfahrene Politikerin, sie kennt das Geschäft und sie ist sicher auch weltpolitisch die bessere Wahl. Und es wäre zu begrüßen, dass das mächtigste Amt der westlichen Welt erstmals eine Frau innehat. Ihre Chancen stehen gut, Präsidentin zu werden.
Michelle Obama hat sich in einer Rede gegen Trumps vulgäre Aussagen und seine Frauenfeindlichkeit gestellt. Wäre sie in Zukunft eine geeignete Präsidentin? Nach einer vielleicht weißen Staatsfrau in Folge eine schwarze Präsidentin?
Kurt Remele: Sie ist eine sehr kluge Frau. Ich kann mir schon vorstellen, wenn künftig eine überzeugende Kandidatin auftritt – ob Michelle Obama oder eine andere –, dass die Vereinigten Staaten von Amerika in naher Zukunft eine schwarze Präsidentin haben werden. Zumindest früher, als die Kirche eine schwarze Päpstin haben wird. «