Die Kreuze in den Kirchen sind verhüllt. Vielleicht ist es gut, auch für kurze Zeit die Augen zu verschließen vor all den Bildern. Um sie danach wieder ganz bewusst zu öffnen und mit klarem Blick all das Unheil in dieser Welt zu sehen, und durch die Karwoche hindurch mit großer Sehnsucht das Osterfest zu erhoffen.
Seht, es werden Tage kommen – Spruch des Herrn –, in denen ich mit dem Haus Israel und dem Haus Juda einen neuen Bund schließen werde, nicht wie der Bund war, den ich mit ihren Vätern geschlossen habe, als ich sie bei der Hand nahm, um sie aus Ägypten herauszuführen. Diesen meinen Bund haben sie gebrochen, obwohl ich ihr Gebieter war – Spruch des Herrn. Denn das wird der Bund sein, den ich nach diesen Tagen mit dem Haus Israel schließe – Spruch des Herrn: Ich lege mein Gesetz in sie hinein und schreibe es auf ihr Herz. Ich werde ihr Gott sein, und sie werden mein Volk sein. Keiner wird mehr den andern belehren, man wird nicht zueinander sagen: Erkennt den Herrn!, sondern sie alle, klein und groß, werden mich erkennen – Spruch des Herrn. Denn ich verzeihe ihnen die Schuld, an ihre Sünde denke ich nicht mehr.
2. Lesung
Hebräer 5, 7–9
Als er auf Erden lebte, hat er mit lautem Schreien und unter Tränen Gebete und Bitten vor den gebracht, der ihn aus dem Tod retten konnte, und er ist erhört und aus seiner Angst befreit worden. Obwohl er der Sohn war, hat er durch Leiden den Gehorsam gelernt; zur Vollendung gelangt, ist er für alle, die ihm gehorchen, der Urheber des ewigen Heils geworden.
Evangelium
Johannes 12, 20–33
Auch einige Griechen waren anwesend – sie gehörten zu den Pilgern, die beim Fest Gott anbeten wollten. Sie traten an Philippus heran, der aus Betsaida in Galiläa stammte, und sagten zu ihm: Herr, wir möchten Jesus sehen. Philippus ging und sagte es Andreas; Andreas und Philippus gingen und sagten es Jesus. Jesus aber antwortete ihnen: Die Stunde ist gekommen, dass der Menschensohn verherrlicht wird. Amen, amen, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht. Wer an seinem Leben hängt, verliert es; wer aber sein Leben in dieser Welt gering achtet, wird es bewahren bis ins ewige Leben. Wenn einer mir dienen will, folge er mir nach; und wo ich bin, wird auch mein Diener sein. Wenn einer mir dient, wird der Vater ihn ehren. Jetzt ist meine Seele erschüttert. Was soll ich sagen: Vater, rette mich aus dieser Stunde? Aber deshalb bin ich in diese Stunde gekommen. Vater, verherrliche deinen Namen! Da kam eine Stimme vom Himmel: Ich habe ihn schon verherrlicht und werde ihn wieder verherrlichen. Die Menge, die dabeistand und das hörte, sagte: Es hat gedonnert. Andere sagten: Ein Engel hat zu ihm geredet. Jesus antwortete und sagte: Nicht mir galt diese Stimme, sondern euch. Jetzt wird Gericht gehalten über diese Welt; jetzt wird der Herrscher dieser Welt hinausgeworfen werden. Und ich, wenn ich über die Erde erhöht bin, werde alle zu mir ziehen. Das sagte er, um anzudeuten, auf welche Weise er sterben werde.
Die Nacht wird zerrissen
Die Gewissheit ist felsenfest: wenn der Augenblick gekommen ist, wird die Nacht zerreißen und das Morgenrot wieder hervorbrechen. Möge die Morgenröte kommen und eines Tages unser Tod, Anbruch eines neuen Lebens.
Ffrère Roger, Taizé
Der verhüllte Schmerz
Wort zum Sonntag
Ab dem 5. Fastensonntag, dem sogenannten Passionssonntag, bis einschließlich Karfreitag werden in der Kirche alle Kreuze verhüllt. Was bedeutet dieser Ritus? Der Mensch neigt dazu, sich schnell an etwas zu gewöhnen. Das ist im Grunde nichts Schlechtes. Oft ist es von Vorteil, wenn wir uns schnell auf neue Gegebenheiten einstellen können. Weniger gut ist, dass sich der Mensch auch an Bilder von Gewalt und Elend gewöhnt. Wir hören täglich von unsagbarem Leid in der Welt und wir gewöhnen uns daran.
Am Passionssonntag verhüllen wir das Kreuz, damit uns am Karfreitag von Neuem bewusst wird, wie hoch der Preis ist, den Jesus für unser Heil bezahlt hat. Vielleicht sollten wir in diesen Tagen auch einmal bewusst die Augen verschließen vor dem Leid und dem Unrecht, das uns täglich vor Augen geführt wird. Ich will mich nicht gewöhnen an das traurige Gesicht meines Arbeitskollegen, der wegen seiner Herkunft und seiner Andersartigkeit täglich gehänselt und schikaniert wird. Ich will mich nicht gewöhnen an den Gedanken, dass auch in unserem Land viele Eltern ihre Kinder noch mit roher Gewalt erziehen. Ich will mich nicht gewöhnen an die Nachrichten von Krieg und Völkermord und auch nicht an die Bilder von halb verhungerten Menschen am Horn von Afrika. Daher verschließe ich für kurze Zeit meine Augen. Ich stelle mir eine heile Welt vor, eine Welt, wie Gott sie sich vielleicht gewünscht und erträumt hat. Und wenn ich meine Augen dann wieder öffne, dann lass’ ich mich erschüttern von all dem Unheil dieser Welt. Mit einem klaren Blick auf das Leid und das Unheil der Menschen trete ich in die Karwoche ein. Ich gehe den Kreuzweg Jesu mit und ich denke an so manches Leid meiner Mitmenschen. Und mit großer Sehnsucht erwarte ich dann das Osterfest, das Fest des Sieges Christi über all das Leid dieser Welt.
Zum Weiterdenken
Trage ich einen Schmerz in mir, der verhüllt ist, den noch nie jemand wahrgenommen hat, den ich noch nie jemandem anvertraut habe?