Oberrabbiner Paul Chaim Eisenberg gibt die geistliche Führung der Israelitischen Kultusgemeinde Wien ab. Im Interview spricht er über die Herausforderung der Einheit, den jüdisch-christlichen Dialog und eines seiner Hobbys.
Ausgabe: 2016/28, Paul Chaim Eisenberg, Israelitische Kultusgemeinde Wien
12.07.2016 - Heinz Niederleitner
Als Oberrabbiner von Wien sind Sie in Pension, aber für den Bund Israelitischer Kultusgemeinden in Österreich machen Sie weiter ... Eisenberg: Ich nenne das Halbpension. Mindestens 90 Prozent der österreichischen Juden leben in Wien. Die Arbeit dort übernimmt mein Nachfolger Arie Folger. Meine Tätigkeit in den anderen Gemeinden wird sich verstärken. Das jüdische Neujahrsfest und den Versöhnungstag im Oktober feiere ich heuer in Innsbruck. Da werde ich auch meinem „Hobby“ als Kantor frönen.
Es heißt, ein Rabbiner werde mit dem Alter immer klüger. Sind Sie heute ein anderer Oberrabbiner als bei der Amtsübernahme vor 33 Jahren? Ein wenig schon. Ich habe damals mit sehr viel Elan und vielen großen Plänen begonnen. Verwirklichen konnte ich sie nur teilweise. Heute sehe ich eine meiner Aufgaben darin, mich für eine Verringerung von extremistischen religiösen Einstellungen einzusetzen. Das beinhaltet auch eine weltoffene Koordination mit anderen Religionen.
Sie haben das Amt des Oberrabbiners von Ihrem Vater übernommen, einer Ihrer Söhne ist auch schon Rabbiner – in der katholischen Kirche ginge das wegen des Zölibats nicht. Ist es ein Vorteil, als Rabbiner aus einer Rabbinerfamilie zu kommen? Es ist bei Rabbinern nicht unüblich, dass das Amt vom Vater auf den Sohn übergeht. Der Sohn des Rabbiners hat einen gewissen Vorrang in der Nachfolge seines Vaters. Da geht es um Erfahrung. Es war auch im Gespräch, ob mein Sohn, der in Manchester Rabbiner ist, zurück nach Wien kommt. Aus familiären Gründen ist er dort geblieben. Er hat viele Jahre in Rabbinatsschulen und bei großen Rabbinern studiert und sagt, dort habe er sich das große Wissen angeeignet, das ein Rabbiner braucht. Aber bei mir habe er gelernt, wie man mit Menschen umgeht, wie man die Anwendung der vielen Gebote umsetzt, dass es für die Menschen nicht zu schwer wird. Und ich behaupte, das von meinem Vater gelernt zu haben: Ein Rabbiner muss die Regeln können, ein Oberrabbiner aber die Ausnahmen.
Das Judentum und der Katholizismus haben gemeinsam, dass sie in der Spannung zwischen konservativen und liberalen Gläubigen stehen. Die Wiener Kultusgemeinde gilt als „Einheitsgemeinde“. Wie meistern Sie die Einheit? Das ist eine schwierige Aufgabe. Vor allem mische ich mich nicht in das ein, was andere Rabbiner in ihren Synagogen machen. Ich bin nicht deren Oberhaupt. Der Oberrabbiner muss vielmehr eine Verbindung zu allen Gruppen haben. Manchmal heißt es vielleicht, der Oberrabbiner nimmt nie Stellung. Das stimmt aber nicht. Wenn es notwendig ist, ergreife ich schon das Wort.
Die letzten Überlebenden der Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung im NS-Regime gehen heute von uns. Wie wurde nach 1945 ein Wiederanfang von jüdischem Leben in Wien möglich? Schon in der Monarchie kamen Juden aus Osteuropa nach Wien. Vor 1938 gab es hier rund 180.000 Juden, 1945 waren es 1800. Es war eine verunsicherte Gemeinde und Österreich war auch nicht einladend gegenüber jenen, die überlebt hatten oder emigriert waren. Die Einstellung änderte sich erst nach der Waldheim-Zeit. Nach dem Krieg reisten viele Juden aus Osteuropa durch Österreich nach Israel oder in die USA. Manche blieben. So entstanden zum Beispiel eine bucharische, eine georgische und eine kaukasische Synagoge. Es gibt eine Vielfalt. Aber diese Menschen sind alle Mitglieder der Einheitsgemeinde, wir haben sie integriert. Die ursprünglichen Wiener sind eine Minderheit.
Seit Ihrem Antritt als Oberrabbiner haben Sie drei Päpste erlebt. Wie verfolgen Sie die Entwicklung der römisch-katholischen Kirche?
Papst Franziskus hat, soweit er konnte, neue Maßstäbe gesetzt. Seine beiden Vorgänger mögen konservativer gewesen sein. Früher hätte sich kein Papst wie Franziskus zum Beispiel über homosexuelle Menschen geäußert. Ich glaube, man erwartet zu viel von ihm. Aber im Amt wächst man. Das habe ich auch bei den Päpsten erlebt.
Die Entfernung vom Glauben, der Säkularismus stellt die christlichen Kirchen vor Probleme. Wie geht es Ihnen im Judentum damit?
Es gibt da einen etwas traurigen Witz: Ein säkularer Jude schickt seinen Sohn auf eine staatliche Schule. Dort hört er von der Dreifaltigkeit, versteht das falsch und sagt zu Hause zu seinem Vater: „In der Schule habe ich gehört, es gibt drei Götter.“ Der Vater erwidert: „Nein, bei uns gibt es nur einen Gott, an den wir nicht glauben.“ In der Tat gibt es in unseren Gemeinden viele Menschen, die wenig mit dem Glauben zu tun haben. Wir müssen sie mittragen und wenn sie nur einmal im Jahr in die Synagoge kommen, sind sie dennoch willkommen. Als Reaktion darauf gibt es aber auch eine starke Tendenz, diese Menschen wieder zu erreichen, etwa indem man sie zum Sabbatmahl einlädt. Das wirkt manchmal, weil auch in dieser Gruppe Menschen nach Spiritualität suchen. Möglicherweise haben sie etwas Fernöstliches gefunden und wir zeigen ihnen: Bei uns gibt es das auch. Andere bleiben bei ihrer Überzeugung. Aber so lange sie noch zur Gemeinde Kontakt haben, sind sie nicht verloren.
Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil hat der jüdisch-christliche Dialog eine spannende Zeit gehabt. Jetzt scheint er „selbstverständlich“ geworden zu sein. Ist das gut oder schlecht?
Gerade Kardinal König hatte da eine große Rolle und war in der jüdischen Gemeinde schon so angenommen, dass ich fast eifersüchtig geworden bin. Mit einem Lächeln habe ich gesagt: Wenn etwas Wichtiges in der jüdischen Gemeinde passiert, ruft man den Oberrabbiner; wenn etwas sehr Wichtiges passiert, ruft man Kardinal König. Auch Kardinal Schönborn hat ein gutes Verhältnis zu uns. Das christlich-jüdische Gespräch mag nicht mehr die große Sensation sein. Aber wir machen ja jetzt rund einmal im Jahr etwas Neues: Gemeinsame Konzerte mit Repräsentanten der katholischen und evangelischen Kirche. Das gibt der Sache Farbe.