
Der Advent ist da, Weihnachten steht bevor – für Musiker oft eine sehr arbeitsreiche Zeit. Erleben Sie diese Phase als Künstler und als Mensch anders?
Schrott: Der Advent lädt dazu ein, den eigenen Rhythmus zu hinterfragen. Der Gegensatz zwischen äußerer Aktivität und innerer Stille wird besonders spürbar. Ich versuche, diese Spannung bewusst wahrzunehmen und Momente der Ruhe inmitten der Bewegung zu schützen. Diese Zeit erinnert mich daran, dass Musik in ihrem Kern nicht darin besteht, Raum zu füllen, sondern ihm Bedeutung zu geben. Der Advent schärft dieses Bewusstsein und verbindet mich dadurch wieder mit den tieferen Gründen, warum ich überhaupt Musik mache.
Was ist Ihnen zu Weihnachten besonders wichtig? Worauf achten Sie?
Schrott: Präsenz. Zeit. Aufmerksamkeit. Teilen. Erinnern. Zuhören. Lieben. Und das versuche ich das ganze Jahr über zu leben.
Sie treten als „Star-Bassbariton“ mit einem Ensemble herausragender Musiker auf. Auf der Bühne müssen alle aufmerksam zuhören und musikalisch aufeinander reagieren. Wie funktioniert diese Zusammenarbeit?
Schrott: In dem Moment, in dem der erste Ton erklingt, verlieren Titel ihre Bedeutung. Auf der Bühne löst sich Hierarchie in Verantwortung auf. Jeder Musiker hört nicht nur auf sich selbst, sondern auf den gemeinsamen Klang. Dieses Zuhören ist aktiv, fast körperlich. Es erfordert Aufmerksamkeit, Demut und Vertrauen.
Das Ensemble funktioniert wie ein lebendiger Organismus. Es gibt Momente, in denen einer führt und die anderen folgen, und Augenblicke, in denen sich die Führung ganz organisch verschiebt. Die bewegendsten musikalischen Erfahrungen entstehen oft aus diesen spontanen Wechselwirkungen, wenn alle vollkommen präsent und aufnahmebereit sind. Dann beginnt die Musik zu atmen.
Lässt sich diese Art des Zuhörens auf die Gesellschaft übertragen? Brauchen wir mehr Bereitschaft, einander wirklich zuzuhören?
Schrott: Ich glaube, das ist eine der dringendsten Lehren, die uns die Musik geben kann. In der Musik ist Zuhören nicht passiv, sondern ein schöpferischer Akt. Man hört, um zu antworten, zu unterstützen, gemeinsam etwas Sinnvolles zu schaffen. In der Gesellschaft tun wir oft das Gegenteil: Wir hören zu, während wir bereits unser Gegenargument vorbereiten. Musik erlaubt es uns, einander jenseits von Sprache, Ideologie oder Herkunft zu verstehen. Würden wir so zuhören wie Musiker – offen und ohne sofortiges Urteil –, würden sich viele Gespräche grundlegend verändern.
Klassische Musik oder Jazz – für Sie scheint diese Frage fast irrelevant. Sie bewegen sich mühelos zwischen den Genres. Wie gelingt Ihnen das, und warum ist es heute nicht mehr notwendig, so strenge Grenzen zu ziehen?
Schrott: Für mich ging es in der Musik nie um Kategorien, sondern um Kommunikation. Genres sind als Orientierung hilfreich, doch sie werden einschränkend, wenn sie zu Grenzen werden. Wenn man sich einem Stil mit Neugier, Respekt und handwerklicher Sorgfalt nähert, antwortet die Musik darauf. Leonard Bernstein sagte: „Musik kann das Unbenennbare benennen und das Unerkennbare vermitteln.“ Diese Fähigkeit gehört nicht nur einem einzigen Genre. Das heutige Publikum ist offener denn je; es interessiert sich weniger für Etiketten und mehr für Authentizität. Wenn man ehrlich ist in dem, was man tut, erkennen die Menschen das – ganz gleich, ob die Sprache klassisch, jazzig oder etwas dazwischen ist.
Sie sind bereits zweimal bei Klassik am Dom aufgetreten (2014 und 2017) – immer mit unterschiedlichen Programmen. Es gelingt Ihnen immer, eine Verbindung zum Publikum herzustellen, die Menschen zu erreichen und sie zum Tanzen zu bringen. Welche Erinnerungen haben Sie an diese Abende?
Erwin Schrott: Was mir am klarsten in Erinnerung geblieben ist, ist das Gefühl, dass zwischen Bühne und Publikum etwas Echtes entstanden ist. Diese beiden Abende waren für mich musikalisch und persönlich sehr unterschiedlich, und doch teilten sie dieselbe Atmosphäre von Offenheit und Neugier. Vom ersten Moment an hatte ich das Gefühl, dass das Publikum bereit war, sich gemeinsam mit uns auf eine Reise einzulassen – nicht als passive Zuhörer, sondern als aktive Partner.
Wenn man Menschen lächeln sieht, wie sie sich nach vorne lehnen oder sich unbewusst im Rhythmus bewegen, spürt man, dass die Musik die unsichtbare Grenze zwischen Ausführenden und Zuhörenden überschritten hat. In solchen Momenten hören Konzerte auf, bloße Veranstaltungen zu sein, sie werden zu gemeinsamen Erlebnissen. Für einen Künstler sind das die Augenblicke, die einen ein Leben lang begleiten.
Was verbinden Sie mit Linz? Was macht diesen Ort für Sie so besonders?
Schrott: Linz besitzt eine ganz besondere Balance, die ich als äußerst anziehend empfinde. Die Stadt trägt ihre Geschichte mit Würde, ohne von ihr erdrückt zu wirken. Es gibt hier eine ruhige Selbstsicherheit, eine Offenheit für Dialog und Veränderung.
Der Domplatz selbst ist ein bemerkenswerter Ort. Er hat natürlich Größe, aber zugleich auch Intimität – und das ist selten. Man spürt die Architektur, die Geschichte, die Stille zwischen den Klängen. Gleichzeitig lädt der Platz zu Leben, Bewegung und menschlicher Präsenz ein. Dort aufzutreten fühlt sich immer so an, als würde man an einen Ort kommen, der einem zurück zuhört.
Sie setzen sich immer wieder für Menschen am Rand der Gesellschaft oder mit Behinderungen ein, unter anderem durch Ihre Zusammenarbeit mit Autismus-Initiativen. Was können Künstler hier beitragen? Was haben Sie aus diesen Erfahrungen gelernt?
Schrott: Künstler können Räume der Begegnung schaffen, in denen Einzigartigkeit als Geschenk willkommen ist. Musik spricht direkt die emotionale und sinnliche Welt an – einen Bereich, in dem sich viele Menschen wohler fühlen als im verbalen Diskurs.
Die Zusammenarbeit mit karitativen Initiativen hat mich enorm bereichert, nicht in abstrakter, sondern in ganz konkreter, menschlicher Hinsicht. Sie hat meine Sicht auf die Rolle des Künstlers in der Gesellschaft grundlegend verändert. In diesen Kontexten geht es in der Kunst nicht mehr um Sichtbarkeit oder Anerkennung, sondern darum, dort zu helfen, wo Hilfe gebraucht wird. Man lernt sehr schnell, dass Kommunikation nicht immer vertrauten Wegen folgt und dass Zuhören oft wichtiger ist als Sprechen. Diese Erfahrungen haben mein Bewusstsein dafür geschärft, wie unterschiedlich Menschen die Welt wahrnehmen. Sie haben mich gelehrt, langsamer zu werden, genauer hinzusehen und vorgefasste Vorstellungen davon loszulassen, wie „Wirkung“ auszusehen hat. Gerade hier zeigt die Musik ihre leise Stärke: Sie schafft gemeinsame Momente, ohne Erklärungen zu verlangen, und bietet Verbindung ohne Bedingungen. Was für mich am nachhaltigsten bleibt, ist die Erkenntnis, dass künstlerische Verantwortung über die Bühne hinausreicht. Die Arbeit mit verschiedenen Initiativen hat mir gezeigt, dass Würde, Präsenz und Beständigkeit mehr zählen als große Gesten.
16. 7., Erwin Schrott, Havana Nocturna, Linz

BÜCHER_FILME_MUSIK

Lesen Sie alle Beiträge zum Schwerpunkt Brucknerjahr 2024
KIRCHENZEITUNG 4 Wochen lang kostenlos kennen lernen. Abo endet automatisch. >>
MEIST_GELESEN