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Bruckner hat elf Symphonien geschrieben – die letzte ist aber nicht eine Elfte, sondern die Neunte. Schon sind wir im Dschungel der Bruckner’schen Symphonik angelangt: Bruckner schrieb neben den neun nummerierten Symphonien eine frühe Studiensymphonie in f-Moll und die von ihm annullierte Symphonie in d-Moll (die „Nullte“). Diese beiden Symphonien gehören mit der fünften, sechsten, siebten und neunten zur Minderheit der Brucknersymphonien mit nur einer Fassung. Alle anderen hat Bruckner mindestens einmal überarbeitet.
Die Gründe dafür waren unterschiedlich: Bei manchen Symphonien stand die Absicht dahinter, mit „verständlicheren“ Fassungen die Ablehnung der Interpreten und des Publikums zu überwinden. Bei späteren Überarbeitungen dürften Bruckners eigene Veränderungswünsche maßgeblich gewesen sein. Nehmen wir Bruckners erste Symphonie, die er sein „keckes Beserl“ (freches Mädchen) nannte. Lange Zeit wurde die „Linzer Fassung“ von 1866 von der späten „Wiener Fassung“ (1890/91) unterschieden. Seit einigen Jahren liegt auch eine frühe Fassung (1865/66) als Edition vor. Ganz allgemein werden bei der Ersten fast nur die frühen Fassungen gespielt – sie sind frischer, radikaler und entsprechen viel mehr dem „kecken Beserl“ als die „bravere“ Spätfassung.
Schwieriger wird es bei der dritten Symphonie mit ihren drei Fassungen: Die längste ist jene von 1874, die viele Anspielungen an Wagner enthält, dem das Werk gewidmet ist. 1877 legte Bruckner für die Uraufführung eine Neufassung mit weitgehender Tilgung der Wagner‘schen Elemente vor. Diese Version bescherte Bruckner die größte Konzert-Niederlage seines Lebens. Gleichzeitig erhielt er das Angebot, die Symphonie drucken zu lassen. Die Erstdrucke seiner Symphonien sind aber ein Problem für sich: Sie enthalten „Verbesserungen“ wohlmeinender Freunde. Ein Erfolg wurde erst die 1890 aufgeführte dritte Fassung der dritten Symphonie.
Besonders kompliziert ist die Geschichte der vierten Symphonie, der „Romantischen“. Sie brachte Bruckner einen ersten Achtungserfolg als Symphoniker und ist neben der Siebten die bekannteste Brucknersymphonie. Zählt man alle Handschriften und die gedruckten Ausgaben zusammen, hat man es mit 15 Versionen zu tun. Den besten Überblick bekommt man, wenn man von der Urfassung 1874 ausgeht und die Veränderung verfolgt. In der Fassung 1878 wurde der dritte Satz (das Scherzo) völlig neu geschrieben und beinhaltet mit den Horn- und Trompetensignalen eine der populärsten Brucknermelodien überhaupt. Allerdings wird die zweite Fassung 1878 meist mit einem Finale von 1880 gespielt (also spricht man von der Fassung 1878/80). Das Finale von 1878, das Bruckner „Volksfest“ betitelte, steht allein da. Zuletzt gibt es die Fassung 1888, bei der Bruckner Straffungen vorgenommen, dafür aber die Spielweise verlangsamt hat.
Was also soll man heute spielen? Da gibt es Moden, zum Beispiel die Aufführung/Aufnahme möglichst früher Fassungen, die eine Zeit lang en vogue war. Im September 2021 hat Simon Rattle in einem Konzert verschiedene Fassungen der Vierten zum Vergleich gespielt, ähnlich hielt es auch Neeme Järvi beim Brucknerfest 2019. Letztlich verdienen alle Fassungen der Brucknersymphonien Respekt und der erwähnte symphonische Dschungel ist eher ein schöner Garten. Seine Pflege brachte nur einen Nachteil: Durch die Umarbeitungen gerade in der letzten Lebenszeit kam Bruckner bei der Symphonie Nr. 9 zeitlich in Verzug und konnte das Finale nicht beenden.
Christian Thielemann entschied sich für die „klassische“ Fassung 1878/80 der Vierten. Hier braucht er keinen Vergleich zu scheuen: Thielemanns Interpretation besticht nicht nur mit (erwartbarem) höchstem musikalischem Niveau, sondern auch mit feiner Differenzierung. Das Blech glänzt nicht nur, es strahlt. Gut herausgearbeitet ist der Paukeneinsatz, der oft bei Brucknerinterpretationen das Nachsehen hat. Ein Interpret wie Thielemann schummelt sich nicht über schwierige Übergänge hinweg: Es ist alles zu hören und die angebotenen Lösungen überzeugen.
Neu ist die Einspielung der Spätfassung, die Rémy Ballot mit dem Altomonte Orchester 2021 bei den Brucknertagen in St. Florian live aufgenommen hat. Und Ballot nimmt die Spätfassung als eigenständigen Zugang völlig ernst. Das Werk erscheint nicht nur (wie von Bruckner intendiert) gemächlicher, sondern auch transparenter in dem Sinne, dass man auch in der mitunter komplexen symphonischen Landschaft Bruckners alle Schattierungen hören kann – und das trotz der schwierigen Akustik der Stiftskirche. Die lange Stille nach der Coda, bis der Applaus einsetzt, zeugt von der Ergriffenheit des Publikums in dieser Sternstunde, die hier erhalten ist.
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