Im Herbst 1918 schwenkte die katholische Kirche von Anhänglichkeit an das Kaiserhaus zu einem sachlichen Umgang mit Republik und Demokratie. Wie ist dieser Schwenk erklärbar?
Rupert Klieber: Die Mehrheit der Bischöfe des großen alten Österreich-Ungarn hing zweifellos über 1918 hinaus der Monarchie an. Man fügte sich jedoch den Verhältnissen und versuchte, die vielfache Notlage nicht auch noch mit Verfassungskämpfen zu verschärfen. Hilfreich dafür waren zwei Argumentationsstränge. Zum einen knüpfte man die Frage der Staatsform im Sinne des Thomas von Aquin eng an die Frage des Volkswohls. Zum anderen betrachtete man die Frage nach der endgültigen Staatsform noch offen und wollte sie in ruhigeren Zeiten einem Volksentscheid unterwerfen.
Haben die Bischöfe vielleicht die Demokratie nur als vorübergehend gesehen?
Klieber: Es herrschte 1918/19 auch im niederen und hohen Klerus weitgehend Konsens darüber, dass das Volk mittels gewählter Abgeordneter selbst über sein Schicksal bestimmen sollte. Die Frage lautete daher nicht: Monarchie oder Demokratie, sondern: demokratische Republik oder konstitutionelle Monarchie auf demokratischer Basis.
Beim Übergang zur Republik spielte der Priester und Moraltheologe Ignaz Seipel eine wichtige Rolle. Er war dann der starke Mann der Christlichsozialen Partei und mehrmals Bundeskanzler, schwenkte aber dann in Richtung autoritärer Führung. War er ein richtiger Demokrat?
Klieber: Ignaz Seipel war maßgeblich daran beteiligt, den Übergang von der Monarchie zur Republik möglichst so zu gestalten, dass dabei keine tiefen gesellschaftlichen Klüfte entstehen. Er hat die Spielregeln der Demokratie in den folgenden Jahren penibel eingehalten und war insofern ein lupenreiner Demokrat. Bekannt ist freilich auch, dass er in den letzten Jahren seines Lebens zunehmend von der politischen Realität des Parteienstaates enttäuscht war und – wie viele Intellektuelle der Zeit – über Alternativlösungen im Sinne einer „wahren Demokratie“ nach stärker autoritärem Muster nachzudenken begann.
In gewisser Weise wurde auch die Kirche in der Republik freier: Das kaiserlicher Benennungsrecht für Bischöfe fiel an Rom. Hat die Kirche das als positiv wahrgenommen?
Klieber: Kirchenrechtlich war stets nur von einem Vorschlagsrecht als „Privileg“ von Monarchen die Rede. De facto wurden die Bischöfe vor 1918 jedoch in den Hofkanzleien, später Ministerien, gemacht. Dem Hl. Stuhl blieb quasi ein Vetorecht. Die Angelegenheit wurde mit dem Kirchenrecht von 1917 rechtzeitig vor dem Umbruch von 1918 eindeutig zugunsten des Hl. Stuhles festgeschrieben. Das war im Sinne der „Kirchenfreiheit“ sinnvoll und sollte künftig abträgliche politische Einmischungen ausschließen. Umgekehrt zeigten aber schon die ersten Bischofsernennungen für Österreich, dass ihre Qualität durch die Neuregelung nicht automatisch verbessert wurde. Vielmehr taten sich neue Fehlerquellen auf. Das betraf vor allem eine – bis heute gegebene – viel zu gewichtige Rolle der meist landfremden päpstlichen Nuntien. Sie hat schon in der Ersten Republik zu einigen wenig angemessenen, ja geradezu unprofessionell anmutenden Auswahlergebnissen geführt.
Bei den Christlichsozialen waren Priester politisch aktiv. Wie würden Sie ihren Einfluss auf die Politik charakterisieren?
Klieber: Die politische Betätigung von Priestern war – unabhängig von ihren persönlichen Qualitäten – in jedem Fall bedenklich, weil damit in den Augen der Öffentlichkeit fast unausweichlich pastorale und politische Belange vermischt wurden.
Die Bischöfe zogen 1933 die Priester aus der Politik ab. Man liest mitunter, das habe es Dollfuß erleichtert, sein Regime durchzusetzen. War der Abzug der richtige Schritt zum falschen Zeitpunkt?
Klieber: Die Entscheidung, Priester aus öffentlichen politischen Ämtern zu nehmen, war grundsätzlich richtig. Die Frage der Unterstützung eines autoritären Kurses in vielen katholisch-intellektuellen Kreisen in ganz Europa war davon aber unabhängig, da es sowohl demokratisch wie autoritär gesinnte Kleriker gab.
Welche Verantwortung trägt die Kirche in Bezug auf das Dollfuß-Schuschnigg-Regime?
Klieber: Gerade neue Quellen aus den Vatikanischen Archiven zeigen, dass die amtskirchliche Unterstützung für den Umbau Österreichs zum autoritären Staat sehr ausgeprägt war. Sie basierte zum einen auf unrealistischen Erwartungen hinsichtlich der Möglichkeiten, Staaten nach „Ständen“ politisch neu gestalten zu können. Zum anderen stand dahinter die realistische Angst, dass „freisinnige“ Mehrheiten in Parlamenten sowie kirchenferne Regierungskoalitionen gewisse kirchenfreundliche Regelungen sowie katholische Grundsätze in der Gesetzgebung abschaffen würden.
1952 zog die Kirche im „Mariazeller Manifest“ Schlüsse aus der jüngsten Vergangenheit. Was war der Fortschritt in diesem Papier?
Klieber: Katholische Vordenker wie Jacques Maritain haben bereits im Vorfeld des Zweiten Weltkrieges vermehrt demokratische Staats- und Gesellschaftstheorien auf christlicher Basis entworfen, die sich in der Welt nach 1945 rasch durchgesetzt haben. Sie wurden eine Richtschnur für eine neue Generation von katholischen Politikern (Konrad Adenauer in der Bundesrepublik Deutschland, Robert Schuman in Frankreich). Die neuen Modelle basierten auf dem verschieden akzentuierten Grundsatz „Eine freie Kirche in einem freien Staat“. In diese Entwicklung reiht sich für Österreich auch das sog. Mariazeller Manifest von 1952 ein.
Berühmt wurde die Aussöhnung Kardinal Königs mit der Sozialdemokratie. War das eine Leistung seiner Person oder lag das „auf der Hand“?
Klieber: Angesichts der Notlagen und der schlechten Erfahrungen der Jahrzehnte zuvor war die österreichische Politik nach 1945 generell sehr konsensorientiert. Mit dem Konzept der Katholischen Aktion verbunden war auch die kirchliche Absicht, zwar gesellschaftlich weiter präsent zu sein, sich dabei aber nicht wie früher von der Tages- und Parteipolitik vereinnahmen zu lassen. Dieser Trend wurde durch die Persönlichkeit Franz Königs in besonderer Weise verkörpert, aber auch verstärkt und mit Inhalt erfüllt, weil er die damit verbundenen Haltungen glaubhaft vertreten und gelebt hat.
Wie würden Sie den Einfluss der christlichen Kirchen insgesamt auf die Fortentwicklung der Ersten und Zweiten Republik in Österreich beschreiben?
Klieber: Die christlichen Kirchen des Landes haben auf der Basis ihrer starken volkskirchlichen Verankerung und eines hohen Organisierungsgrades vor allem bis in die 1980er Jahre stark auf die politischen Realitäten eingewirkt. Wo sie dies als Dienst an der Allgemeinheit verstanden und praktiziert haben (vor allem im Schul- und Sozialbereich), haben sie die Lebenschancen der Bevölkerung erhöht und waren insofern echte Stützen des Gemeinwohls. Wann immer sie der Versuchung erlegen sind, mit politischen Instrumenten Privilegien und Prinzipien ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse der Bevölkerung durchzusetzen, haben sie ihre theologische Bestimmung als „Service-Einrichtungen“ für das Gottesvolk verkannt und wie die von Jesus getadelten Pharisäer gehandelt, die anderen bloß „Lasten aufbürden“. «
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