Wort zum Sonntag
Mouhanad Khorchide war einer der Vortragenden bei der interreligiösen Tagung vergangene Woche in Abu Dhabi, wo auch Papst Franziskus eine Rede gehalten hat.
Es war das erste Mal, dass ein Papst nach Arabien reiste. Wie waren Ihre Eindrücke von Franziskus?
Mouhanad Khorchide: Ich war sehr angetan von seiner Rede, von seiner Bescheidenheit, auch von seiner Aufrichtigkeit. Er benennt Probleme, geht aber gleichzeitig auf die Muslime zu. Man spürt, dass er den Dialog zwischen dem Islam und dem Christentum intensivieren möchte; das zeigt auch seine geplante Reise im März nach Marokko. Dass man ihn eingeladen hat, er dieser Einladung folgte und dass er gemeinsam mit dem Großimam Ahmad Mohammad al-Tayyeb dieses wichtige Dokument für Frieden und Geschwisterlichkeit unterzeichnete – das hat starke Symbolkraft. Damit es nicht dabei bleibt, sehe ich jetzt die Notwendigkeit, dass praktische Schritte folgen.
Welche Schritte würden Sie sich wünschen?
Khorchide: Wenn in diesem gemeinsamen Dokument zu lesen ist, dass alle Menschen, unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit, die gleichen Rechte und Pflichten haben sollten, dann müsste das zur Folge haben, dass auch in islamischen Ländern z. B. an öffentlichen Schulen Religionsunterricht angeboten werden soll auch für Nicht-Muslime; dass in islamischen Ländern Religionsfreiheit gewährt wird und der Bau nicht nur von Moscheen, sondern auch von Kirchen und anderen Gotteshäusern unterstützt werden sollte. Es gibt immer noch ein Heiratsverbot muslimischer Frauen mit nicht-muslimischen Männern; oder Mekka und Medina dürfen nicht von Nicht-Muslimen betreten werden mit dem Argument, sie seien unrein. Solche Positionen stehen im völligen Widerspruch zur Rede von Gleichheit der Menschen und gegen Diskriminierung anhand der Religionszugehörigkeit.
Sind Sie in Ihrem Vortrag bei der Tagung in Abu Dhabi auf diese kritischen Aspekte eingegangen?
Khorchide: Ich habe bewusst diese herausfordernden Punkte in unserer Religion angesprochen, weil sie noch immer als Hindernis für einen wirklich offenen Dialog stehen. Es ist wichtig, sich ihnen zu stellen, sonst ist unsere Arbeit nur selektiv und unauthentisch. Man muss Überlegungen dahingehend machen, wie wir Muslime mit Stellen im Koran umgehen, die den anderen nicht würdigen. Sind wir auch bereit, manche Positionen zu hinterfragen, womöglich zu verwerfen? Das zu thematisieren, war mir ein Anliegen. Es geht um Barmherzigkeit als humanen Wert zwischen allen Menschen. Mein Vortrag hat schon für kontroverse Diskussionen gesorgt. Aber ich denke, dieses Dokument muss als Arbeitsauftrag an die Theologinnen und Theologen, aber auch an die Politiker verstanden werden.
Sie sind gerade dabei, einen Korankommentar in 17 Bänden zu schreiben; der erste erschien 2018. Ist das Ihr Beitrag eines neuen Zugangs zum Koran?
Khorchide: Ja, denn die beste Koranübersetzung erklärt nicht die historischen Hintergründe. Der Koran steigt mitten in ein Thema ein und man weiß nicht, was gemeint ist, denn ohne den historischen Kontext können wir den Koran nicht verstehen. Im Kommentar werden alle Koran-Verse gesammelt, die ein bestimmtes Thema behandeln wie Gewalt, Frauen, Gesetzestexte bzw. Scharia, Nicht-Muslime, Gottesbild, Menschenbild usw. Diese werden chronologisch geordnet, um nachzuvollziehen, wie hat sich damals in der Gemeinde etwas entwickelt, was waren die historischen Hintergründe, warum ein Thema auf diese Art und Weise angesprochen wurde. Das schafft einen völlig neuen Zugang zum Koran, weg von einer wortwörtlichen Lesart hin zu einer kontextuellen.
Was die Gewalt gegen Frauen betrifft, so ist im Koran z. B. die Sure 4, Vers 34, sehr umstritten. Es geht darum, dass Männer aufgefordert werden, ihre widerspenstigen Frauen zu schlagen. Wie könnte diese Sure anders interpretiert werden?
Khorchide: In dem Kontext, in dem dieser Vers damals verkündet wurde, handelt es sich um eine Situation in einer stark patriarchalen Gesellschaft, in der der Mann, wenn er in seinem Stolz verletzt war, als Zeichen der Männlichkeit im Affekt die Frau geschlagen oder sogar umgebracht hat, wenn sie ihm widersprach. Der Koran empfiehlt in so einem Fall, miteinander zu reden; wenn das nichts nützt, sollen Intimitäten gemieden werden; und wenn das auch nichts bringt, heißt es, schlagt zu. Es geht darum, diesen durch Affekt erfolgten Zorn des Mannes ad absurdum zu machen, so dass es gar nicht zum Schlagen oder zum Umbringen kommt. Es waren erste Entwicklungen in der Gesellschaft von damals und es war für diese Zeit schon ein revolutionärer Schritt, überhaupt etwas anderes jenseits von Gewalt vorzuschlagen. Für uns heute ist es natürlich sehr befremdend, solche Stellen zu lesen. Wenn ich das fortdenke und mich frage, was sagt mir das heute, dann verstehe ich darunter, dass wir in Krisensituationen überlegen müssen, wo gibt es Möglichkeiten der Mediation, der Eheberatung, der psychologischen Unterstützung.
Es geht um Lebensrealitäten ...
Khorchide: Wenn der Koran nur so gelesen wird, wie es die Menschen im 7. Jahrhundert getan haben, dann ist er lebensfremd. Damit er nicht ein abstraktes, rein historisches Buch bleibt, versuche ich mit dem Korankommentar Wege aufzuzeigen, wie man den Koran fortdenken kann, um ihn in unser Leben hier und jetzt einzubinden. Das ist, glaube ich, was eine fundamentalistische Lesart des Koran unterscheidet von einer aufgeklärten, menschenfreundlichen Lesart des Koran. Man muss klar sagen, es sind immer weniger Muslime, die den Koran lesen, weil sie ihre Lebenswirklichkeit darin nicht wiederfinden. Wir müssen uns fragen, was heißt Religion im Alltag, was heißt Religion in der Kommunikation mit Menschen, wie trete ich auf in der Gesellschaft, wie kann ich Liebe, Barmherzigkeit, Aufrichtigkeit bezeugen durch meine Interaktion mit Menschen in meinem Alltag. Es geht um gelebte Religiosität. Ich habe diese gelebte Frömmigkeit von meiner Oma kennengelernt, als ich ein Kind war.
Wie war diese Zeit?
Khorchide: Meine Großeltern und Eltern sind als Palästinenser 1948 in den Libanon geflüchtet. Ich bin dort in Beirut geboren. Später gingen meine Eltern mit mir nach Riad in Saudi-Arabien, wo ich aufwuchs. Die Sommerferien habe ich aber immer bei meiner Oma in Beirut verbracht. Die libanesische Gesellschaft war eine sehr plurale, die Hälfte sind Muslime, die Hälfte Christen. Jeden Freitag nach dem Gebet hat meine Oma mit mir Brot und Käse gekauft und vor der Moschee, neben der auch eine Kirche stand, an die armen Menschen verteilt – an Muslime und Christen. Sie hat keine Unterscheidung gemacht. Diese gelebte Frömmigkeit meiner Oma mit ihrem starken Glauben im Herzen hat mich geprägt.
Wie war das Leben in Saudi-Arabien?
Khorchide: Saudi-Arabien und der Libanon – beides sind islamische Länder, aber sie haben völlig unterschiedliche Auffassungen vom Islam. In Saudi-Arabien durfte ich als Ausländer nicht studieren. In Wien war das später für mich möglich – ein nicht-islamisches Land hat mir eine Heimat geboten, mich aufgefangen, mich gleich behandelt. Auch das hat mich geprägt; ich begann das zu hinterfragen – und studierte islamische Theologie, um meiner Religion auf den Grund zu gehen. Ich bin dankbar für meine Biografie und möchte das, was mir geschenkt wurde, weitergeben. «
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