Wort zum Sonntag
Unter den mehr als 300 Publikationen, die Kardinal Víctor Manuel Fernández vor seinem Amtsantritt als Präfekt des Glaubensdikasteriums im September veröffentlicht hatte, sind zwei besonders umstritten: „Heile mich mit deinem Mund – Die Kunst des Kusses“ und „Die mystische Leidenschaft – Spiritualität und Sinnlichkeit“. Beide hatte er vor Jahrzehnten verfasst.
Das Buch über Küsse war für Jugendliche gedacht. Den anderen Band über mystische Leidenschaft erarbeitete er gemeinsam mit Ehepaaren, die ihm zu diesem Zweck auch über das Erleben von Orgasmen berichteten.
„Sexuelle Lust behindert nicht Spiritualität oder Kontemplation, denn wenn die sexuelle Vereinigung ein Akt der Liebe ist, öffnet sie nur das Herz und erleichtert damit die Kontemplation Gottes“, resümiert der spätere Kardinal und unterstreicht seine Aussagen mit Zitaten der heiligen Bonaventura und Thomas von Aquin.
Das sieht der Religionswissenschaftler und katholische Theologe Lothar Handrich grundsätzlich ähnlich. „In jeder Religion gehören zu einer echten Gottesbeziehung auch Erotik und Sexualität, auch wenn die Sexualität nicht körperlich ausgelebt werden muss. Warum? In einer gesunden Sexualität gibt man sich ganz der Partnerin, dem Partner hin, und das ist auch ein Ideal im Glauben an Gott.“
Wenngleich die Publikation von Víctor Manuel Fernández Fragen aufwerfe. „Ich selbst würde Erkenntnisse über Orgasmen lieber von einem Sexualwissenschaftler oder einer Sozialwissenschaftlerin lesen wollen als von einem Priester. Die Umfrage des Seelsorgers unter einer Handvoll Ehepaaren hat keine wissenschaftliche Qualität.“
Fernández stellte im Buch Behauptungen auf wie: „Kurz gesagt, er (der Mann) interessiert sich mehr für die Vagina als für die Klitoris.“ Lothar Handrich sieht darin „relativ oberflächliche Beschreibungen“, die die Frage aufwerfen, wem das dienen solle.
„Mich hat verwundert, dass ein Seelsorger die Thematik so intensiv betreibt. Das hat etwas Voyeuristisches.“ Allerdings sei die Absicht verständlich, mit Paaren über die spirituelle Komponente ihrer Beziehung und Sexualität ins Gespräch zu kommen. Kardinal Fernández selbst zog das Buch „Die mystische Leidenschaft“ kurz nach der Veröffentlichung wieder zurück, um zu vermeiden, dass es falsch interpretiert wurde. Seit seiner Ernennung zum Präfekten des Glaubensdikasteriums suchen Gegner:innen seiner theologischen Linie nach belastendem Material und haben unter anderem das nicht erhältliche Werk vom Ende der 1990er-Jahre wieder „ausgegraben“.
Lothar Handrich beschäftigt sich aus theologischer und religionswissenschaftlicher Perspektive mit dem Verhältnis zwischen Körperlichkeit und Spiritualität, zwischen Sexualität und Mystik.
„Man kann den Eindruck bekommen, dass viele Religionen teilweise extrem sexualfeindlich sind“, beobachtet er, „und es stellt sich manchmal leider auch so dar. Die Wahrheit ist aber, dass von den Ursprüngen her in allen Religionen Wunderbares, Positives in Bezug auf das Göttliche und die Sexualität zu sehen ist.“
Körperlichkeit und Sexualität würden als Geschenke Gottes beziehungsweise des Göttlichen verstanden. Asketische Menschen könnten sich ebenso Gott hingeben, allerdings müssten auch sie ein gesundes Verhältnis zum eigenen Körper und zu ihrer Sexualität entwickeln. „Wenn jemand sagt, ich bin gläubig, muss man schon nachfragen: Wie ist dein Verhältnis zur Sexualität, zu deinem Körper.“ Es gehe darum, „dass man eine erotische Verbindung zu sich, zu anderen und zum Göttlichen aufbaut.“
„Eros“ ist in der griechischen Mythologie der Gott des Begehrens. Das sexuelle Begehren ist eine Form der Erotik, aber nicht die einzige. Das Begehren kann sich auf verschiedene Interessen beziehen. Es kann sich um das Streben nach Erfolg in einer sportlichen Disziplin handeln, um die Suche nach musikalischer Perfektion, um die Sehnsucht, etwas zu erreichen, sei es wissenschaftlich, politisch, künstlerisch, wirtschaftlich oder religiös. Das Wort „Eros“ ist daher für viele Bereiche einsetzbar, auch wenn „Erotik“ meist als sexuelle Aufreizung verstanden wird. Gotteserfahrungen werden im Allgemeinen nicht der Erotik, sondern der Mystik zugeordnet.
Was die Religionen verbindet, sind ihre herausragenden Mystikerinnen und Mystiker. Menschen, die dunkelste Gottferne ebenso wie innigste Gottesvereinigung erfahren haben. Wie sie ihre Gottesbegegnung schildern, klingt oft wie ein sexuell-erotischer Text. So meint etwa Mechthild von Magdeburg im 13. Jahrhundert, die Seele solle nackt sein, um sich mit Jesus innigst zu vereinen.
Auch bei Meister Eckhart im 14. Jahrhundert und Teresa von Ávila sowie Johannes vom Kreuz im 16. Jahrhundert finden sich starke sexuelle Bezüge. „So wortstark, wie sie ihre Bilder beschreiben, erregten sie immer auch Protest. Bis heute“, erklärt der Religionswissenschaftler Lothar Handrich. Ob diese Menschen je eine körperliche Erfahrung mit einem anderen Menschen gemacht hatten, ist nicht klar für die Forschung. „Aber so wie sie das beschreiben, kann jeder Mensch, der schon einmal körperliche Sexualität erfahren durfte, es nachvollziehen.“
Was klar ist für die Forschung: Mystische Menschen in jeder Religion hatten große Probleme mit ihrer Glaubensgemeinschaft. „Die Kontrolle über Menschen zu haben ist etwas sehr Attraktives für Staaten, Gesellschaften und Glaubensgemeinschaften. Wenn Menschen in einer freien und zufriedenen Gottesbeziehung sind, sind sie wesentlich weniger manipulierbar.“ Die freie Gottesbeziehung und eine Offenheit gegenüber Sexualität gehören zusammen. „Eine Vereinigung mit Gott wird sehr oft als sexueller Akt dargestellt. Im Sikhismus etwa wird der Tod als Hochzeit mit Gott dargestellt“, so Lothar Handrich.
Da die Regeln der meisten Religionsgemeinschaften von Männern niedergeschrieben wurden, gibt es überall mehr Regeln für Frauen. Eine große Rolle spielt die Angst. „Je ängstlicher ein Mensch ist, in der Religion oder im sexuellen Bereich, umso mehr Gesetze, Vorschriften und klare Positionen braucht dieser Mensch. Das sehen wir bei allen Fundamentalismen.“
Nicht über Sexualität zu sprechen, ist noch problematischer. „Man müsste schon im Kindergarten mit einfacher Sexualethik beginnen, damit die Kinder lernen, dass der Körper ihnen gehört, dass er etwas Wertvolles ist und dass nicht jeder Mensch mit ihnen machen darf, was er oder sie möchte.“ Denn Sexualität könne eben auch zerstörerisch sein. „Wenn wir jedoch achtsam sind mit unserem Körper und mit unserem Gegenüber, wenn wir eine gesunde Sexualität und eine gute Gottesbeziehung leben,
werden wir bessere Menschen.“
Im Christentum gibt es nach den Worten von Papst Franziskus keine Ablehnung der Sexualität. Sexuelle Lust sei ein Geschenk Gottes, sagte er jüngst bei einer Generalaudienz in der vatikanischen Audienzhalle. Zugleich warnte er jedoch vor Sex ohne Liebe.
Von allen menschlichen Vergnügungen sei die Sexualität besonders stark, weil sie alle Sinne miteinbeziehe. Das sei zwar eine schöne Sache, so das Kirchenoberhaupt. Sexuelle Befriedigung ohne Liebesbeziehung sei aber abzulehnen. Denn Wollust, die nur auf eigene Bedürfnisse und eigenes Vergnügen abziele, zerstöre menschliche Beziehungen.
„Wie viele Beziehungen, die im besten Sinne begannen, haben sich dann in giftige Beziehungen verwandelt, in eine Besessenheit des anderen – ohne Respekt und ohne Sinn für Grenzen?“, gab der Papst zu bedenken. Beispiele gebe es in den täglichen Nachrichten genug. Franziskus bezog sich in diesem Zusammenhang auf die Vielzahl von Femiziden, also Tötungen von Frauen oder Mädchen, über die italienische Medien immer wieder berichten.
Wahre Liebe bedeute, den anderen zu respektieren, dessen Glück zu suchen, Einfühlungsvermögen zu entwickeln, betonte der Papst. Wer hingegen der Lust nachgehe, suche nur nach Abkürzungen und verstehe nicht, dass der Weg zur Liebe langsam zurückgelegt werden müsse. Erst diese Geduld, die keineswegs gleichbedeutend mit Langeweile sei, ermögliche glückliche Liebesbeziehungen.
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Birgit Kubik, 268. Turmeremitin, berichtet von ihren Erfahrungen in der Türmerstube im Mariendom Linz. >>
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