Wort zum Sonntag
Als die Tür ins Schloss fällt, hat Thomas die Knöpfe seines Mantels schon aufgemacht. Außer der Pendeluhr ist im Landpfarrhaus nichts zu hören. Der Tannenbaum in der Diele verströmt seinen Duft und im alten Pfarrer klingen die Weihnachtslieder der Mette nach. Die Pendeluhr schlägt zweimal an: Halb zwei, denkt sich Thomas, während er seine Schuhe auszieht. Seit 30 Jahren lebt er jetzt in diesem Haus. Im kommenden Jahr wird er 70 Jahre alt und der Generalvikar wird froh sein, wenn er wieder nicht mit dem Wunsch um Abgabe der Pfarre vorstellig wird.
Warum sollte ich auch, fragt sich Thomas, während er die Treppen hinaufsteigt. Außer den üblichen Beschwerden, geht es ihm gut. Der Pastoralassistent und die Sekretärin haben die besonders anstrengenden Sachen in der Pfarre in der Hand, die Verwaltung, die Kinder- und Jugendarbeit und anderes. Von vielem ist Thomas freigespielt.
Der Priester zieht seinen Anzug aus. Morgen am Christtag wird er ihn wieder brauchen. Im Pyjama steht er im Badezimmer und putzt sich die Zähne. Er sieht sein Gesicht im Spiegel und denkt: Früher, als du voll eingespannt warst mit dem Dekanat, mit der zweiten Pfarre, mit den Projekten, da liebtest du die Stille in der Nacht, die du nur kurz genießen konntest, weil du todmüde ohnehin gleich eingeschlafen bist. Jetzt werden die stillen Stunden mehr. Die Einsamkeit ist bei dir eingezogen. Die üblichen Versuchungen hast du überwunden – den übertriebenen Aktionismus, die Beruhigung mit dem dritten Bier und das Fernsehen bis spät in die Nacht. Geblieben ist dir die Stille zwischen alten Möbeln und altmodischen Tapeten. Renovieren wolltest du das Pfarrhaus. Aber erst war die Kirche dran, dann das Pfarrheim und dann hast du gedacht: Das kann mein Nachfolger machen. Jetzt schaut es nicht so aus, als wenn nach dir wieder ein Priester hier einzieht, denn es gibt zu wenige. Wie hat die kleine Hanna vom Nachbarn am Nachmittag nach der Kindermette gefragt? „Kommt das Christkind heute auch zu dir?“
Das Vertrauen eines Kindes müsste man haben, denkt sich Thomas, und spült den Mund mit Wasser aus.
Das Nachtgebet ist verrichtet und der Pfarrer ist eingenickt. Nur sein Atem ist zu hören. Da quietschen in der Nähe Reifen und der Pfarrer fährt hoch. Als er aufgestanden ist und zum Fenster geht, fährt das Auto, das an der nahen Bushaltestelle gestanden hat, mit Vollgas los. Thomas will sich wieder zum Bett drehen. Da sieht er eine Bewegung im Schatten des Wartehäuschens. Etwas Weißes kann er erkennen. Da steht jemand in der Kälte. Wird gleich abgeholt werden, denkt sich Thomas und wartet. Die Minuten verrinnen. Was soll das – um die Uhrzeit bei der Kälte mitten in der Nacht draußen stehen, sagt der Pfarrrer zu sich selbst. Soll ich nachsehen gehen?
Thomas zieht sich etwas über, geht die Treppe hinunter und nimmt den Mantel. Draußen stapft er durch den Vorgarten. Seine Schritte brechen durch die feine Eisschicht über der Schneedecke. Er gibt sich keine Mühe, leise zu sein. Trotzdem ist die Person, die unter dem Dach des Wartehäuschens zusammengekauert sitzt, von Thomas’ Erscheinen überrascht. Das Weiße, das Thomas vom Fenster aus gesehen hat, ist ein Minirock. Die Strumpfhose hat Löcher und Laufmaschen, das Oberteil ist bauchfrei, was man sieht, weil die Jacke darüber zu kurz ist. Erschrocken schaut das Mädchen Thomas aus verweinten Augen an.
„Was machst du denn da?“, fragt er.
„Nichts.“
„Aber wirst du bald abgeholt?“
„Nein. Mein Freund und ich haben uns zerstritten.“
„Der wird sicher gleich zurückkommen.“
„Nein, ich hab ihm gesagt, da wohnt meine Tante“, sagt das Mädchen und deutet auf das Pfarrhaus. „Ich warte, bis ein Bus kommt.“
„Am Feiertag fahren bei uns keine Busse. Außerdem ist es erst halb drei. Du kannst nicht hier in der Kälte bleiben. Weißt du was? Wir gehen ins Haus und rufen deine Eltern an.“
„Bloß nicht.“
„Wieso nicht?“
„Ich bin vor einem Monat zu meinem Freund gezogen. Meine Mutter spricht deshalb nicht mehr mit mir.“
„Und dein Vater?“
„Der wohnt in Wien.“
Der Priester ist ratlos. Das Mädchen dalassen kann er nicht. Aber soll er sie im Pfarrhaus übernachten lassen? Wenn das wer mitkriegt, was werden sich dann die Leute zusammenreimen?
Ein Windhauch lässt Thomas frösteln und er schiebt die Bedenken beiseite.
„Komm mit 'rauf, ich hab ein Gästezimmer. Morgen schauen wir weiter.“
„Echt jetzt?“
„Ja, komm.“
„Und sie tun mir eh nix?“
„Sicher nicht.“
Thomas stapft zum Haus zurück. Das Mädchen tut sich mit ihren Stiefelabsätzen schwer. Im Haus holt Thomas den Rest des Tees aus der Thermoskanne und gibt dem Mädchen ein paar Lebkuchen, dann bettet er im Gästezimmer auf.
„Brauchst du noch was? Willst du mir was sagen? Soll ich zuhören?“, fragt er schließlich.
„Nein.“
„Dann gute Nacht.“
Um sieben Uhr holt der Wecker Thomas aus dem Schlaf. Wie immer betet er das Stundengebet im Schlafzimmer, bevor er sich anzieht und in die Küche geht. Er macht Kaffee, holt das Brot und lässt die Butter weich werden. Um neun Uhr ist Christtagsgottesdienst, eine halbe Stunde davor muss er aufbrechen.
Viertel nach acht klopft er an die Tür des Gästezimmers. Doch es rührt sich nichts. Auch nach heftigem Pochen bleibt es still. Ist da wer? Hab’ ich alles nur geträumt? Thomas spürt seinen Herzschlag. Dann macht er die Türe auf.
Das Bett ist gemacht, die leere Teetasse steht auf dem Nachttisch. Daneben liegt ein Papiertaschentuch. Thomas tritt heran. Das Taschentuch hat rote Flecken. Thomas will es wegwerfen, doch dann erkennt er, dass das Rot nicht einfach Flecken sind. Mit Lippenstift steht auf dem Taschentuch „Danke“.
Als sich Thomas gerade das Messgewand auszieht, kommt die kleine Hanna von den Nachbarn in die Sakristei. Sie ist ihren Eltern nach der Christtags-Messe entwischt. Das kleine Mädchen strahlt und berichtet von der Bescherung und den schönen Geschenken, die es bekommen hat. „Und?“, fragt Hanna den alten Pfarrer, „war das Christkind auch bei dir?“ Thomas sieht sie erst mit einem fast mitleidigen Lächeln an und will ihr eine kindgerechte Antwort geben. Dann aber wird sein Gesichtsausdruck ernst und er sagt leise, mehr zu sich selbst als zu Hanna: „Ja, es war auch bei mir.“
Wort zum Sonntag
Birgit Kubik, 268. Turmeremitin, berichtet von ihren Erfahrungen in der Türmerstube im Mariendom Linz. >>
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