Ihre neue Heimat entstand mit Schaufeln und sehr viel Handarbeit
Am kommenden Wochenende wird Marchtrenk zur Hauptstadt der Heimatvertriebenen. Die Hälfte der Bewohner haben hier eine Vertriebenen-Geschichte.
Ausgabe: 2014/24, Marchtrenk, Neue Heimat, Mahr, Donauschwaben, Siebenbürgen, Wildmann
10.06.2014 - Matthäus Fellinger
Es waren einfache Häuser, jedes exakt nach dem gleichen Plan. Die Familien selbst und ihre Nachbarn – das waren die Bauleute. Die Baugruben wurden ohne Bagger ausgehoben, mit Schaufel und Scheibtruhe. Auch die Ziegel wurden selbst gefertigt. So war es Mitte der Fünzigerjahre, als die Siedlungen der im und nach dem Zweiten Weltkrieg Heimatvertriebenen errichtet wurden. Im Süden von Linz zum Beispiel – oder in Marchtrenk. Knapp 40.000 waren es allein in Oberösterreich. Von den über 13.000 Einwohnern Marchtrenks sind heute die Hälfte Nachkommen der Siebenbürger und der Donauschwaben. Gegen Ende des Krieges flohen sie vor der heranrückenden Roten Armee etwa aus dem Grenzgebiet des heutigen Serbien, Ungarn und Rumänien – dem Banat. Über 50.000 Menschen kamen dort in den Arbeits- und Vernichtungslagern um. Die fliehen konnten, haben damals alles verloren – und sie haben oft ihr Leben lang mit diesem Verlust gerungen. Zuerst lebten sie in Baracken, Mitte der Fünzigerjahre erfolgte die Einbürgerung – und sie bauten sich eine „Neue Heimat“. Stadtteile tragen seither diese Bezeichnungen.
Eine Familiengeschichte
Die von einer Kindergruppe gebastelte Riesenblume zu seinem Fünfziger steht noch im Büro des Marchtrenker Bürgermeisters Paul Mahr. Die Geschichte derer, die in Österreich und Deutschland damals neue Heimat gefunden haben, wird an seiner Familiengeschichte deutlich. Mahrs Mutter stammte aus Ruma nahe Belgrad, der Vater aus Schöndorf im rumänischen Banat. Kennengelernt haben sie sich nach ihrer Flucht in Marchtrenk beim Kellerwirt, dem damaligen gesellschaftlichen Zentrum der Heimatvertriebenen. Es war auch das Stammlokal des Fußballvereins SV Viktoria, wo sein Vater später erster Torschützenkönig wurde. „Wir sehen heute vieles anders als unsere Eltern, die ihren Besitz verloren haben“, sagt Paul Mahr. Auch ein Schuldeingeständnis seitens der Länder, in denen Massenvernichtungen verübt wurden, ist ihm nicht mehr so wichtig, sagt er. Es wäre auch schwer zu erreichen. Allerdings: Die Erinnerung wachzuhalten, das ist auch dem Bürgermeister ein Anliegen – gerade in seiner Stadt, die so sehr von dieser Geschichte geprägt ist. Irgendwann um die 30 kommt das Interesse an der Geschichte, erzählt er in seinem lichtdurchfluteten Amtszimmer. Auf dem Platz vor dem Rathaus wird gebaut. Marchtrenk ist eine wachsende Stadt.Zusätzliche Schulplätze werden gebraucht – und noch mehr Kindergartenplätze. Paul Mahr hat den Stammbaum seiner Familie bis in das Jahr 1771 zurück erforscht, als damals die Schwaben aus dem Schwarzwaldgebiet auf Booten – den berühmten „Ulmer Schachteln“ – in das zugesprochene neue Siedlungsgebiet im Banat aufgebrochen sind. Um das Erbe zu sichern, engagiert sich Mahr in der Landsmannschaft der Donauschwaben als stellvertretender Vorsitzender.
Friedensweg führt durch die Stadt
Anlässlich des Erinnerungstages am 13./14. Juni wird, beginnend in der katholischen Pfarrkirche, auch der „Friedensweg“ eröffnet. All die Katastrophen, aber auch Wunder des 20. Jahrhunderts werden hier in Erinnerung gerufen. Die Zeit zum Beispiel, als im Ersten Weltkrieg die „Schwarze Stadt“ – benannt nach den Teerpappedächern – entstand, in der bis zu 35.000 Kriegsgefangene lebten. Im Lagerspital wurden damals so viele Patient/innen behandelt wie heute im Klinikum Wels-Grieskirchen, erzählt der Bürgermeister. Der 1915 errichtete Wasserturm erinnert in Marchtrenk noch heute an das Lager. Für Paul Mahr ist das die Frage, die sich aus der eigenen Familiengeschichte und der Geschichte der Stadt Marchtrenk stellt: Wie gehen wir miteinander um? Die damals gute Integration der Heimatvertriebenen ist immer noch Ansporn: Rund 10 Prozent der Marchtrenker/innen kommen heute aus den Ländern Ex-Jugoslawiens und aus der Türkei. Probleme, betont Mahr, gab es keine. Und das lässt sich für ihn für die heutige Zeit lernen: die großartige Nachbarschaftshilfe, in der die Menschen damals ihre Heimat neu geschaffen haben.
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Die Schmerzen und die Freuden
Schränke und Regale, selbst der verglaste Balkon der privaten Wohnung im Linzer Lentia-Hochhaus sind vollgestellt mit Unterlagen und Büchern. Prof. Dr. Georg Wildmann und seiner Frau Erika ist es vor allem zu verdanken, dass die Geschichte der Heimatvertriebenen, insbesondere der Donauschwaben, so hervorragend dokumentiert ist. Seit fast 35 Jahren gibt er z. B. die Filipowa‘er Heimatbriefe heraus. Eine Reihe von Büchern, eine Unzahl an Einzelbeiträgen stammen von ihm. Ein Hauptanliegen ist, dass diese Ereignisse in den Geschichtsunterricht der Schulen besser Eingang finden. Georg Wildmann entging im Dezember 1944 jenem Gemetzel in Filipowa, als 212 Männer erschossen wurden. Ihm selbst gelang später die Flucht aus dem Todeslager Gakowa im heutigen Serbien und er kam als Flüchtling in Linz an. Die Frage der Vergebung ist eine Frage, mit der der Theologe Wildmann sein Leben lang ringt. Vergebung braucht das Stehen zur Wahrheit. Die Kirche feiert nicht nur das Fest der Sieben Schmerzen Mariä, hat Wildmann in einer Rede in Altötting betont – sie kennt auch das Fest der Sieben Freuden (5. Juli). So stellt er dem Leid der Vertreibung die Freuden gegenüber, nämlich die positiven Entwicklungen in den Jahrzehnten danach, sodass der Leidensweg nicht umsonst war. So wird heute die Vertreibung von Menschen aus ihrer angestammten Heimat international als Verbrechen gewertet. Dass 1950 in der Charta der Heimatvertriebenen festgehalten wurde: „Wir verzichten auf Rache und Vergeltung“, ist eine der Freuden. 85 Jahre ist Dr. Georg Wildmann eben geworden – und forscht und schreibt und sammelt weiter. www.donauschwaben-ooe.at
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Erinnerungstag: 70 Jahre neue Heimat
Erstmals begehen die Heimatvertriebenenverbände in Österreich den Erinnerungs- und Bedenktag gemeinsam. Heuer sind es 70 Jahre, dass die ersten Flüchtlinge und vertriebenen Donauschwaben und Siebenbürger ankamen, später auch die Sudetendeutschen. Der Erinnerungstag beginnt am Vorabend, Freitag, 13. Juni, 19 Uhr beim Mahnmal mit einer ökumenischen Abendandacht. Am Samstag, 14. Juni, 10 Uhr wird der Festgottesdienst in der katholischen Kirche gefeiert. Am Nachmittag um 14 Uhr geht beim Volkshaus die offizielle Dank- und Gedenkfeier über die Bühne. Erzbischof em. Robert Zollitsch – selbst Donauschwabe –, die Linzer Bischöfe Ludwig Schwarz und Maximilian Aichern, der evang. Bischof Michael Bünker und Superintendent Gerold Lehner werden ebenso erwartet wie Landeshauptmann Josef Pühringer. Am Ende des Gottesdienstes wird der „Friedensweg“ eröffnet. Der Gedenkweg soll auf Schautafeln die Geschichte des 20. Jahrhunderts in Marchtrenk in Erinnerung bringen.