Der evangelische Superintendent Gerold Lehner über die Ökumene: Wir bräuchten den Mut, Schritte zu setzen, die – noch – nicht zur Gänze vom Recht gedeckt sind
Vor 50 Jahren wurde auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil das Ökumenismusdekret „Unitatis Redintegratio“ verabschiedet. Damit war eine enorme Begeisterung für die Ökumene verbunden. Wo stehen wir heute? Gerold Lehner: Die Euphorie war völlig berechtigt. Das Konzilsdekret über die Ökumene war ein epochemachender Schritt. Das Bemühen der Konzilsväter, das Christliche als das Verbindende herauszustellen, das sollte man auch 50 Jahre später auf keine Weise kleinreden. Vom 2. Vatikanum ist ein enormer Schwung ausgegangen. Und wenn man auf die Diözesansynoden schaut – auch auf die Linzer Synode –, so ist man dort vom Konzil ausgehend weitergegangen. Man hat das Gefühl gehabt: Jetzt stehen wir vor dem Durchbruch, wenn das so weitergeht, haben wir es geschafft. Aber in den folgenden Jahrzehnten scheint man Angst vor der eigenen Courage bekommen zu haben und hat begonnen zurückzurudern. Ich nehme da die evangelische Kirche nicht aus. Man ist stehen geblieben und dann sogar zurückgegangen.
Wo machen Sie das Zurückgehen fest? Zum Beispiel an der Diözesansynode. Viele ihrer Forderungen sind stillschweigend wieder in der Versenkung verschwunden. Ich möchte aber betonen, dass es keine einlinige Entwicklung gibt. Wir haben es mit beidem zu tun: mit Fortschritten und Rückschritten. Weitergegangen ist es bei der Gebetswoche für die Einheit der Christen und bei den Initiativen der gemischt konfessionellen Ehen, die eine starke Bewegung sind. In Bezug auf die theologische Arbeit ist enorm viel geschehen, was in der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigung 1999 gegipfelt hat. Aber auch hier wird die Ambivalenz sichtbar, die die Ökumene durchzieht: Eigentlich war es ein großer Schritt. Aber von Anfang an gab es starken Gegenwind. Ich denke an den Einspruch der deutschen evangelischen Universitätsprofessoren und die Diskussionen in deren Gefolge. Bei allem, was man kontrovers diskutieren kann, ist die Grundfrage deutlich geworden: Will man eine Einigung, die einen herausfordert, das Eigene in anderer Perspektive sehen zu lernen? Es ist traurig, dass die Gemeinsame Erklärung über die Rechtfertigung, die ein Meilenstein ist, letztlich wenig bewirkt hat. Sie hat weder die Basis erreicht noch ist sie Referenzpunkt geworden, auf den man sich bezieht. Die Gemeinsame Erklärung zeigt symptomatisch, wo wir heute stehen.
Man tritt also auf der Stelle ... Theologisch ist es wirklich so, das haben wir in Oberösterreich bei den ökumenisch-theologischen Tagen schon vielfach gesehen, dass man in der Lehre nicht mehr sagen kann: hier Katholiken, da Protestanten. Es gibt vielfach erarbeiteten Konsens. Wir verständigen uns über die Mitte, wir stellen fest, wie sich das Verständnis der Lehraussagen so überschneidet, dass ein gemeinsamer Grund sichtbar wird. Das gilt für die Eucharistie/das Abendmahl in hohem Maße, und das gilt selbst in der Frage des Amtes. Bei gutem Willen wäre es hier möglich, den Konsens festzuschreiben und die praktischen Konsequenzen daraus zu ziehen. Aber wir wollen es offensichtlich nicht.
Wer ist wir? Grundsätzlich empfinde ich hier beide Kirchen als zögerlich.
Wenn Sie den ökumenischen Status quo in einem Satz zusammenfassen ... Einerseits haben wir gute Beziehungen, andererseits herrscht Unsicherheit, was sein kann und sein darf. Die guten Beziehungen sind da und nicht so leicht zu erschüttern. Trotzdem stellt sich die Frage: Ist das jetzt alles, sollen wir da stehen bleiben? Uns damit zufriedengeben, dass wir uns gut verstehen und dennoch getrennt sind und auch getrennt bleiben? Das ist die Grundsatzfrage. Ich will hier gar nicht der katholischen Kirche allein den Schwarzen Peter zuschieben, ich frage auch: Wie ist die Motivation in der evangelischen Kirche? Wollen wir die Einheit wirklich? Eine Einheit, die uns beide auch verändern wird?
Mit Blick auf das Luther-Jubiläum 2017 – in die Erinnerung an Thesenanschlag vor 500 Jahren – scheinen die ökumenischen Bemühungen aber wieder an Fahrt aufzunehmen ... Das ist gut so. Denn aus meiner Sicht wird 2017 eine Art Scheidepunkt. Wird 2017 für die Ökumene ein Meilenstein oder ein Stolperstein? Wir werden 2017 stark in der Öffentlichkeit stehen und die Frage wird thematisiert werden: Wie gehen die christlichen Kirchen mit der Trennung um? Sind sie in der Lage, diese aus dem Geist des Evangeliums heraus, auf das sie sich ständig berufen, zu überwinden? Wenn wir das nicht schaffen, wird’s nicht einfach so bleiben, wie es ist, sondern der Spalt wieder größer werden. 2017 ist wirklich wichtig.
Was ist 2017 zu tun, was wollen Sie tun? Ich habe vier Punkte: Die katholische Kirche müsste anerkennen, dass in und mit der Reformation – ich sage es ganz theologisch – Gott an dieser katholischen Kirche in Gericht und Gnade gehandelt hat. Das heißt: Die katholische Kirche war in einem Zustand, der zum Teil ihr Kirchesein gefährdet hat, in dem sie mit ihrer Praxis an manchen Punkten das Evangelium verdunkelt hat. Das bedeutet, dass die Reformation nicht willkürlich war, sondern von Gott gekommen ist. So wie die Propheten das Volk Israel auf ihr Versagen hingewiesen haben, so hat die Reformation an der Kirche gehandelt. Das ist tatsächlich etwas, was die katholische Kirche anerkennen müsste.
Durch die Reformation ist die Freude des Glaubens, die Gnade Gottes, die unverdiente Barmherzigkeit wieder viel klarer geworden, strahlender. Was ist der zweite Schritt? Dann müsste die evangelische Kirche anerkennen – und das ist unbestritten –, dass der Bruch ein unheilvoller war, dem Sein und dem Auftrag der Kirche widerspricht. Diesen Punkt darf man nicht verschweigen. Der Bruch hat in seinen Auswirkungen viel Leid gebracht und beide Seiten haben Schuld auf sich geladen.
Ist 2017 ein Jubiläums- oder ein Bußjahr? Der erste Punkt hat viel mit Freude und Dankbarkeit zu tun – deshalb könnte man 2017 durchaus von einem „Jubiläum“ reden. Der zweite und dritte Punkt, auf die ich nun komme, haben mit Besinnung, Selbstkritik und, wenn man so will, Buße zu tun. Denn drittens müssten beide Seiten bekennen, dass der Eifer für die Wahrheit nicht immer nur ein Eifer für die Wahrheit war. Die Auseinandersetzungen wurden meist nicht im Geist der Liebe geführt. Man hat aufeinander „hingeprügelt“ in einer Form, die schlicht indiskutabel war.
Und was ist das Ergebnis dieser Besinnung? Aus dem resultierend müssten beide Kirchen bekennen, dass sie die von Gott in Einheit gestiftete Kirche nun entschiedener verwirklichen wollen, weil sie darin das Gebot ihres Herrn erkennen. Diese vier Punkte liegen als ökumenisches „Arbeitsprogramm“ für 2017 vor uns.
Wie könnte 2017 in Oberösterreich begangen werden? Ich möchte mir für 2017 von der katholischen Kirche, meiner Schwesterkirche, etwas wünschen. Das ist vielleicht nicht ganz unproblematisch, aber wenn man sich nichts wünscht, dann wird auch nichts geschehen. Also mein Wunsch: Auf einem gemeinsamen Studientag soll historisch, theologisch und kirchenleitend eine Erklärung erarbeitet werden, wie ich sie skizziert habe. Das kann nicht vom Himmel fallen, sondern daran muss man arbeiten. Und: Wir müssen bald damit beginnen.
Was soll mit dieser Erklärung geschehen? Damit verbindet sich mein zweiter Wunsch. Diese Erklärung soll in zwei Gottesdiensten auch liturgisch begangen werden. Ich betone: in zwei Gottesdiensten. Im evangelischen Gottesdienst könnte der katholische Bischof dieses Dokument vorstellen und im evangelischen Gottesdienst am Abendmahl teilnehmen. Und umgekehrt: Der evangelische Superintendent stellt die Erklärung vor, predigt und empfängt bei der katholischen Eucharistiefeier die Kommunion. Das wäre zumindest ein – vorläufig – einmaliges, örtlich begrenztes Zeichen, das aus einer gemeinsamen Vorbereitung heraus erwächst und zeichenhaft etwas vorwegnimmt, auf das wir alle hinarbeiten. Das wäre mein Traum für 2017.
Der evangelische Kirchentag 2017 wird am Fronleichnamsfest gefeiert ... Damit verbindet sich mein dritter Wunsch, der aber am einfachsten zu realisieren ist. Es wird 2017 einen großen evangelischen Kirchentag in Linz geben, und zwar am Fronleichnamstag. Damit ist der Auftrag an uns beide gegeben, nicht nebeneinander zu feiern, sondern eine Verschränkung und einen gemeinsamen Kern zu finden, der unsere Einheit und unser gemeinsames Zeugnis nach außen demonstriert. Sonst werden wir unglaubwürdig.
Wäre ein gemeinsames Abendmahl auch an diesem Tag denkbar? Wenn es aus der gemeinsamen Vorbereitung erwächst, wäre es sehr schön. Da kann man noch vieles offenlassen. Aber das wäre die Richtung. Es braucht in jedem Fall eine adäquate Vorbereitung und ich werde bald mit diesen Vorstellungen zu Bischof Schwarz gehen und ihm das vorlegen.
In den letzten Jahren haben die Kirchen in der Öffentlichkeit eher ihre je eigene Identität betont. Warum sollte das plötzlich anders werden? Ich halte nichts von einer „Profilökumene“, die sozusagen die eigene „Marke“ betont. Natürlich gab und gibt es verschiedene Ausprägungen des Christentums, aber dass wir diese Verschiedenheit über und vor die Einheit stellen, ist undenkbar: Wir sind dem einen Herrn der Kirche verpflichtet, der uns zu einer Kirche gemacht hat. Wenn wir glauben, guten Gewissens die Differenzen als „Markenzeichen“ in die Auslage stellen zu können, dann ist das töricht. Ich betone: für mich ist Ökumene zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine Frage des Willens. Natürlich ist es bequemer, auf den Geleisen zu bleiben, auf denen wir uns befinden. Und manchmal scheinen wir uns ganz wohl dabei zu fühlen, in der anderen Kirche so ein kleines Feindbild zu haben, von dem man sich bei Bedarf abgrenzen kann, um die eigene Qualität herauszustellen. Was wir bräuchten, wäre ein wenig Mut, Schritte zu setzen, die vielleicht – noch – nicht zur Gänze vom Recht abgedeckt sind, die aber die Hoffnung neu entfachen und das Erhoffte Wirklichkeit werden lassen. Denn die Verantwortung für die Ökumene können wir nicht nach Rom oder „Wittenberg“ delegieren.