Nähe braucht Raum und Zeit. Das ist in einer gehetzten Welt oft nicht leicht zu finden. Ein Unter Uns von Ernst Gansinger.
Ausgabe: 2015/13
24.03.2015 - Ernst Gansinger
Eine Tiefgarage in Linz. Es kann aber auch eine Kaufhauspassage sein, ein Bahnhof, eine Straßenbahn-Station, irgend ein öffentlicher Ort: Leute eilen aneinander vorbei. Die einen schweigen, die anderen reden. Und viele streiten. Der öffentliche Streit von Menschen, die zusammen gehören, zeigt an, wie ramponiert ihr Zusammen-Gehören schon ist. Und es ist gleichzeitig ein Hilferuf, den niemand aufgreifen kann: Wir sind uns einander schon so egal, dass uns die Öffentlichkeit auch egal ist. Ein jüngeres Ehepaar kommt mir streitend entgegen. Die Frau hat ein Kind an der Hand, der Mann schiebt den Kinderwagen. Sie streiten, sie schreien sich an. Die Kinder werden mitgerissen in die Flucht aus diesem Zwangs-Miteinander. Worum es geht, weiß ich nicht, will auch gar nicht hinhören. Mir geht die Tatsache des Streitens unter die Haut: Wie viel Not muss in den Menschen, die sich nahe sein woll(t)en, angesammelt sein, dass sie die Nähe zur gegenseitigen Hölle machen? Was war da bisher geschehen? Niemand sucht Nähe, um sie zerstören zu können. Aber die Nähe wird oft zur zerstörenden Erfahrung. Nähe braucht Raum und Zeit. Wir aber leben in einer distanzlosen und gehetzten Welt. Unter solchen Bedingungen ist es ganz schwer zu vernähen.