Ein Stück Apostelgeschichte des ausklingenden 20. Jahrhunderts
Ausgabe: 1998/43, Walbert Bühlmann
20.10.1998 - Walter Achleitner
Das „Buckeln nach oben“ ist für Walbert Bühlmann nicht das, was er unter vorauseilendem Gehorsam versteht. Dem Schweizer Kapuziner geht es im Gespräch über „heiße Eisen“ vielmehr darum, den Menschen zu helfen – selbst wenn die Lösungen nicht im Einklang mit dem geltenden Recht stehen. Denn die nach reiflichen Überlegungen und vom Gewissen getragenen Entscheidungen eilen dem Kirchenrecht der Zukunft voraus.In Fragen des pastoralen Handelns der Kirche sprechen Sie vom „vorauseilenden Gehorsam“. Was heißt das?Bühlmann: Ich sehe hier zwei Ebenen. Einerseits sind es die Theologen, die laufend „vorauseilender Gehorsam“ üben. Denn sie haben nicht bloß die Aufgabe, die Aussagen des Lehramtes dem Volk verständlich zu machen. Zu ihren Aufgaben zählt auch, dem Lehramt vorauszugehen. Denn mehr als die Leute im Lehramt erspüren sie neue Fragen und Probleme des konkreten Lebens. Im gemeinsamen Dialog klären sie diese ab, und mit der Zeit werden Ideen spruchreif. Erst mit einem Verzögerungsprozeß von 20 bis 40 Jahren, wie wir ihn aus der Geschichte kennen, übernimmt das Lehramt diese neuen und reifen Ideen. In die Zukunft hineinDie zweite und noch wichtigere Ebene betrifft das pastorale Handeln. Die Gesetze, die Rom herausgibt und die für den gesamten Erdkreis gelten, sind Leitplanken, die man respektieren soll. Aber Gesetze, die für die ganze Erde gültig sein sollen, bieten vielfach für konkrete Situationen wahrscheinlich nicht die beste Lösung. Und so dürfen einzelne Menschen oder auch Lokalkirchen ihre konkrete Situation überdenken und dementsprechend handeln – auch neben dem Gesetz, über das Gesetz hinaus und in die Zukunft hineineilen. Sie handeln so, damit den Menschen in diesen konkreten Situationen tatsächlich geholfen ist. Ich würde sagen, auf diese Weise wird einem neuen Kirchenrecht, das in Zukunft wiederum erscheinen wird, der Weg geebnet. Das heißt, einem Gesetz zu gehorchen, das es in dieser Form noch nicht gibt, aber dennoch dem Evangelium entspricht?Bühlmann: Die Frage des „vorauseilenden Gehorsams“ ist für mich ein Stück Apostelgeschichte im 20. Jahrhundert. Paulus hat ja damals auch den vorauseilenden Gehorsam geübt. Er hat den Heidenchristen nicht das jüdisch-mosaische Gesetz auferlegt, sondern eigenmächtig gehandelt. Was den Judenchristen in Jerusalem ein Skandal war, war ihm aus Heiligem Geist heraus klar: zur Rechtfertigung genügt der Glaube an Jesu. Und nachträglich haben die Apostel sogar dem Paulus recht gegeben. Also, der vorauseilende Gehorsam des Paulus hat sich durchgesetzt. So kann auch in der Apostelgeschichte des 20. Jahrhunderts in vielen Fällen der vorauseilende Gehorsam vieler ernstzunehmender Gruppen das Ziel erreichen. Worauf gründet Ihrer Meinung nach dieser „vorauseilende“ Gehorsam? Bühlmann: Seit der neueren Kirchentheologie des 2. Vatikanischen Konzils wird es ja heute als selbstverständlich angenommen, daß alle Christen Heiligen Geist haben; folglich haben sie auch „sensus fidei“, also „Glaubenssinn“. Und vor allem haben sie auch gesunden Menschenverstand; dazu dürfen sie noch die „Gewissensfreiheit“ beanspruchen. Das heißt nicht, daß ich leichtfertig machen kann, was ich will. Sondern was einzelne Menschen nach reiflicher Überlegung in ihrem Gewissen, oder eine Gruppe oder die gesamte Pfarre oder die Lokalkirche überlegt: Für uns ist das Gesetz wörtlich nicht die beste Lösung, dann dürfen sie und sollen sie als mündige Christen ihre ganze Verantwortung, das Gewicht ihres Gewissens, in die Waagschale legen und so handeln, daß den Menschen tatsächlich geholfen wird. Welche Beispiele dieser Vorgangsweise in der jüngeren Geschichte prägen das heutige kirchliche Leben?Bühlmann: Ich würde auf den heiligen Papst Pius X. zurückgreifen. Als Pfarrer hat er eingesehen, daß die damalige Praxis, Kinder erst mit zwölf Jahren zur Kommunion zuzulassen offenbar nicht dem Willen Jesu entspricht. Und ohne den Bischof zu fragen begann er, in seiner Pfarre schon Kinder mit acht oder zehn Jahren zur Kommunion zuzulassen. Diese Praxis, die in seinem Gewissen gerechtfertigt war, konnte er, nachdem er Papst geworden war, der ganzen Kirche übergeben.Die MinistrantinnenOder das Verbot von Ministrantinnen, das bis vor wenigen Jahren gültig war. Da hat man doch in den meisten Pfarreien gesagt: Um Gottes Willen, das beachten wir gar nicht mehr. Dann hat Kardinal Ratzinger, mit gutem Recht, zur Kenntnis genommen, daß dieses Gesetz vom Volk nicht angenommen wird, und er hat es zurückgezogen. Weil man dieses Gesetz bestreikt hat, also aus gesundem Verstand heraus darüber hinausgegangen ist, hat es zur Wirkung gehabt, daß das Verbot zurückgenommen wurde. In vielen Fällen der Geschichte haben so Frauen und Männer, einzelne und in Gemeinschaften, Tatsachen gesetzt, die dann später von der Kirche übernommen wurden. Im schlimmsten Fall, und leider ist der schlimmste Fall oft eingetreten, wurden solche Gruppen verketzert. Leider! Das ist dann der Mangel an Dialog zwischen solchen Gruppen und der Kirchenautorität. Interview: Walter AchleitnerWalbert Bühlmann lebte lange Zeit als Missionar in Afrika. Der Kapuziner war Dozent für Missionswissenschaften in Fribourg und Animateur für praktische Missionsarbeit in Rom. Als engagierter Beobachter der Entwicklung der Kirche in sechs Kontinenten lebt der 82jährige heute in der Schweiz.