Vor 60 Jahren, am 9. November 1938, brannten im ganzen deutschen Reich die Synagogen, allein in Wien 42. Jüdische Geschäfte wurden geplündert, die Besitzer durch die Straßen gejagt. In Innsbruck wurden vier jüdische Mitbürger ermordet. Der grausame Auf-takt zur größten Passion dieses Jahrhunderts.Wenn man sich die leidvolle Geschichte der österreichischen Juden anschaut, von menschenverachtenden Erniedrigungen bis zu den Massentransporten in die Vernichtungslager ab 1941: Warum wurde das von der Bevölkerung so widerstandslos hingenommen?Weinzierl: Neben der Angst der Menschen vor der eigenen Verfolgung spielte sicherlich ein tief verwurzelter Antisemitismus hier eine wesentliche Rolle. Da gab es auf der einen Seite den religiös begründeten Antijudaismus, den z. B. Bischof Gföllner in seinem Hirtenbrief gegen den Nationalsozialismus (1933) ausdrücklich rechtfertigt – im Unterschied zum rassischen Antisemitismus. Erst beim II. Vatikanischen Konzil wurde der pauschale Vorwurf an die Juden, Christusmörder zu sein, zurückgenommen. Dann gab es, vor allem in Wien, einen scharfen christlich-sozialen Antisemitismus, in dem Leute wie Lueger und seine – auch priesterlichen – Mitstreiter den religiösen Antijudaismus für politische Zwecke einsetzten (Kampf gegen den Liberalismus in Politik, in Presse, Wirtschaft und Wissenschaft). So etwa veröffentlichte der Gründer der „Wiener Kirchenzeitung“, Pfarrer Brunner, im Jahr 1888 ein 30strophiges „Wanzenepos“. Darin wird – mit deutlichem Bezug auf die Juden – eine fürchterliche Wanzenplage beschrieben, der man nur durch die Anwendung von Insektiziden Herr wird. Und schließlich gab es bereits vor der Jahrhundertwende den rassischen Antisemitismus der Deutschnationalen, dessen Vorkämpfer vor allem die schlagenden Verbindungen waren. Gab es neben dem Antisemitismus und der Angst nicht auch sehr prosaische Gründe wegzuschauen? Weinzierl: Zum Nährboden des Antisemitismus kamen für viele auch noch wirtschaftliche Vorteile durch die Arisierungen hinzu. Die Wohnungsnot für Nichtjuden hat sich in Wien innerhalb kürzester Zeit schlagartig gebessert, nachdem rund 70.000 Wohnungen von jüdischen Bürgern „rekrutiert“ worden waren. In diesem Umfeld gab es unter den Christen nur wenig „Gerechte“, die – auch unter dem Einsatz des eigenen Lebens – Juden geholfen oder sie versteckt haben. Daß ihr Beispiel – auch in der Kirche – nach 1945 lange Zeit verschwiegen wurde, hat Zivilcourage und Solidarität in unserem Land geschwächt. Ein falscher Weg Kardinal Innitzer, der bereits als Rektor der Wiener Universität entschlossen gegen die judenfeindlichen Krawalle vorging, konnte mit der „Hilfsstelle für nichtarische Katholiken“ vielen rassisch Verfolgten helfen. Er hat sich verzweifelt bemüht, Geld aufzutreiben, um Ausreisevisa kaufen zu können. Und er hat auch gegen massive Drohungen diese Hilfsstelle im Bischofshaus nicht geschlossen. Der Einwand, daß sich die Kirche vorwiegend um getaufte Juden gekümmert hat, bleibt bestehen, auch wenn die jüdischen Gemeinden ihre eigenen Hilfsorganisationen hatten. Erst Anfang 1943 hat Bischof Freising von Berlin während der Tagung der gesamtdeutschen Bischofskonferenz nachdrücklich gefordert, daß sich die Kirche für alle Menschen in Bedrängnis, nicht nur für ihre Mitglieder, einsetzen müsse. Damals freilich waren die meisten Juden bereits in den Vernichtungslagern. Freisings Appell war auch ein Einbekenntnis, daß die Kirche einen falschen Weg gegangen ist. Um Dialog bemühtWarum wurde nach 1945 das Unrecht gegen die Juden so lange verschwiegen? Wie schwer sich die Kirche insgesamt mit der Frage der Mitschuld am Antisemitismus und an der Verfolgung der Juden tut, zeigt die vaktikanische Shoah-Erklärung ebenso wie die jahrelangen Anfeindungen gegen den Innsbrucker Bischof Stecher durch rechtskatholische Gruppen nach dem Verbot des Anderl-Kultes. In den Jahren nach dem Krieg haben sich viele Politiker, auch ehemalige KZ-Häftlinge wie Innenminister Helmer, wenig entgegenkommend gegenüber überlebenden jüdischen KZ-Opfern und zurückkehrenden Juden gezeigt. Vielen war es daher nicht möglich, ihren Besitz oder ihre Wohnungen wieder zurückzubekommen. Die Kirche, die selber nach dem Krieg sehr damit beschäftigt war, ihre eigenen Strukturen wieder aufzubauen und die beschlagnahmten Einrichtungen zurückzubekommen, schwieg.Der Ehrlichkeit halber muß man aber sagen, daß die katholische Kirche Österreichs Jahre vor der Politik ihre Mitschuld am Antisemitismus und ihr menschliches Versagen einbekannt hat und bemüht war, mit der jüdischen Gemeinschaft in unserem Land einen Dialog aufzubauen. Ich möchte hier stellvertretend Friedrich Heer und Kardinal König nennen, der gemeinsam mit Prälat Johannes Österreicher einer der Motoren für die Konzilserklärung „Nostra aetate“ war. Vor zehn Jahren war es die Katholische Aktion, die das Gespräch zwischen Kirche und Judentum in zwei vielbeachteten Symposien auf eine breite Ebene gehoben hat. Und ich freue mich, daß Kardinal Schönborn diese Initiativen mutig fortführt. Eine Gedenktafel bekennt SchuldMit zahlreichen Gedenkgottesdiensten und Veranstaltungen erinnern sich die christlichen Kirchen Österreichs und die jüdischen Gemeinden des Landes an das Novemberpogrom vor 60 Jahren. Zum Auftakt der Gebets- und Bedenkwoche „Mechaye Hametim“ („Der die Toten auferweckt“) wurde auf dem Wiener Judenplatz eine von Kardinal Schönborn in Auftrag gegebene Tafel angebracht. Darauf wird hingewiesen, daß während der Judenverfolgung 1420/21 in Wien Hunderte Juden zu Tode kamen, weil „christliche Prediger abergläubische judenfeindliche Vorstellungen verbreitet und gegen die Juden und ihren Glauben gehetzt“ hatten. Die Tafel erinnert auch an den vergeblichen Kampf mittelalterlicher Päpste gegen den judenfeindlichen Aberglauben sowie an den Kampf einzelner Christen gegen den NS-Rassenhaß . „Aber es waren viel zu wenige. Heute bereut die Christenheit ihre Mitschuld an den Judenverfolgungen und erkennt ihr Versagen“, heißt es wörtlich.