Die junge Linzerin Julia Kröhn erzählt die Geschichte der Christin Fiora, die sich auf die Spur ihres ungeliebten, ja verachteten Vaters und ihrer beiden Mütter – der Herrin und der Sklavin – begeben muß, um sich selbst zu finden. Der Vater spielt in Jerusalem des Jahres 33 n.Chr. eine entscheidende Rolle, mit der er in die Christentumsgeschichte eingeht: Pilatus.Ich blicke auf, mitten in Julias Gesicht und fühle, daß sie am Eigentlichen vorbeiredet. Die Fragen, die sie mir in Wahrheit stellen will, bleiben unausgesprochen, selbst wenn ich sie zu hören glaube, die Fragen, wer meine Eltern denn nun wirklich waren, wer ich sei, ob ich ihnen ähnlich wäre, ihnen in manchen Eigenschaften gliche. Julia, beginne ich darum von selbst und durchbreche somit die Schweigsamkeit. Mein Vater war ein ehrgeiziger Mann. Er wollte immer Eindruck machen beim Kaiser. Enttäuschungen war er nicht gewohnt.Skeptisch verzieht sie ihren Mund ob dieser Redefreudigkeit. War er in solch hoher Position?Sie spürt meine Unsicherheit – und daß mein Geheimnis zu wackeln beginnt. Einen Augenblick scheint es leicht zu sein, ihr zu berichten – daß mein Vater Pilatus schon im ersten Jahr seiner Amtszeit nichts besseres zu tun hatte, als das Volk mit unnötigen Kaiserbildern zu kränken und in Rom seine Macht zu demonstrieren.Aber wie ich den Mund auftue, verschweige ich den Namen und sage schlicht: es war ihm unmöglich zuzugeben, wenn er etwas falsch gemacht hat. Und hat er? fragt Julia, meine Freundin. Natürlich hat er, gebe ich zurück.Die Sünden deiner Eltern sind nicht die deinen, meint Julia, als wüßte sie, was in mir vorgeht. Und du mußt nicht für sie bezahlen. Ja, gebe ich zurück. Aber darunter leiden.Aus: Julia Kröhn: Lukrezias Töchter. Erzählung. Triga Verlag, Frankfurt/Main.