In den leidenden Menschen erkennt Jakob Mitterhöfer das Gesicht des ganz Mensch gewordenen Sohnes Gottes.
Als Kind hatte ich eine wichtige Begegnung mit Jesus. Ich kletterte auf den Tisch, was streng verboten war. Da sah ich das Kreuz ganz nahe. Entsetzt fragte ich meine Mutter, ob Jesus bei lebendigem Leib angenagelt war. Meine Mutter bejahte. Sie erklärte mir, dass heute die Juden in den Gaskammern so „angenagelt“ werden. Das war mitten im Krieg.Gleich nach dem Krieg begann eines unserer Nachbardörfer mit den Passionsspielen. Mein kleiner Bruder hielt es nicht aus, als er die Kreuzigung sah. Er weinte und musste aus dem Saal gebracht werden. Sein Weinen steckte sogar hartgesottene Männer an.
Schleichende Häresie
Ein süßlicher Heiland hatte in meinem Bewusstsein keinen Platz. Wenn trotzdem ein Katechet vom „lieben Jesulein“ sprach, hatte ich meine eigenen Vorstellungen. Während meines Theologiestudiums in Rom hielt ein italienischer Priester Exerzitien. Seine blumige Sprache konnte ich noch aushalten, nicht aber das kitschige Bild, das er von Jesus malte. Ich ging zu meinem Oberen und erklärte ihm, wenn Jesus so ist, dann will ich mit diesem „Kerl“ nichts zu tun haben.An der Päpstlichen Universität Gregoriana konnte ich die Aufregung nicht verstehen, dass es ein Professor wagte, über die Psychologie Jesu eine Vorlesungsreihe zu halten. Ich war fasziniert. Wieder erlebte ich, was seit jenem Tag meiner Kindheit in mir schlummerte: einen Jesus, der wirklich Mensch war. Ich begriff, was Karl Rahner als „schleichende Häresie“ in der Kirche bezeichnete, nämlich, dass wir zwar mit den Lippen Jesus als Menschen bekennen, aber in Wirklichkeit nur Gott in ihm sehen. Jesus hat demnach alles mit göttlichem Wissen gewusst, vorausgesehen, vorausbestimmt, gewollt. Wo bleibt bei einer solchen Vorstellung die Wirklichkeit der „Nägel“, die Realität des Menschen Jesu?Ich revoltierte, als uns die Lehre von Anselm von Canterbury vorgetragen wurde. Weil wir Menschen den unendlichen Gott beleidigt haben, verlangt Gott (aus Gerechtigkeit) unendliche Vergeltung. Nur Jesus, der Sohn Gottes, konnte diese Abgeltung leisten. Ich fand bei Erwin Ringel Bestärkung. Er sagte, eine solche Gerechtigkeit ist in Wirklichkeit Rache. Für mich stand fest: Ein falsches Bild von Jesus führt zu einem falschen Bild von Gott, zu einem falschen Bild über die Welt und die Menschen.Eine Bibelstelle ist für mich besonders wichtig. Die Szene vom Garten Getsemani zeigt, was die „Nägel“ für Jesus bedeuteten. Hier ringt nicht ein Held, der Sohn Gottes, um die Erfüllung des Willen Gottes, sondern ein Mensch. Wer diese Stelle mit dem Herzen liest, erahnt, in welcher Not sich der Mensch Jesus befunden hat. Hat ihn sein Gott verlassen? War sein Weg falsch? Ich verstehe von dieser Stelle her den Ruf des Sterbenden am Kreuz als einen Aufschrei des Protestes und eines letzten Aufbäumens: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?!“ Jesus stirbt mit diesem Schrei. Das Evangelium zeigt, dass Gott eingegriffen hat, allerdings ganz anders, als es sich der Mensch Jesus vorstellen konnte. So auf Gott vertrauen, wie es Jeus in Getsemani und am Kreuz getan hat, kann wirklich nur ein Mensch, der Gott so nahe steht, wie eben der Mensch gewordene Sohn Gottes.
Ein mitleidender Gott
Später studierte ich die Theologie der Befreiung. Sie griff das Wort der lateinamerikanischen Bischofssynode von Puebla 1979 auf: „Die vielen Gesichter der Armen sind die gefolterten Gesichter des gemarterten Jesus.“ Der Theologe John Sobrino, der dem Massaker an der Jesuitenuniversität in San Salvador nur deshalb entging, weil er gerade im Ausland war, geht in seiner Christologie vom geschundenen Christus aus, der in den Armen leidet. Sobrino ist von der „unendlichen Vergeltung“, die Gott verlangt, so weit entfernt, dass er es wagt, im Leiden Jesu den Schmerz des Vaters zu verspüren, der mit seinem Sohn leidet. Sobrino hält uns die Realität der Welt vor Augen: Die Menschen in ihrer Logik sind so unbarmherzig, dass sie alle vernichten, die sich dieser Logik entgegenstellen. Der Mensch Jesus war ein Opfer dieser globalisierten Logik, die in vielen Varianten am Werk ist. Der Bogen von den „Nägeln“ meiner Kindheit bis heute ergibt ein schlüssiges Bild: Gott wurde wirklich Mensch; er nimmt wirklich (nicht symbolisch) am Geschick der Menschen und Schöpfung teil. Gott greift ein durch Jesus, den er von den Toten erweckt hat.
BEDENK-TEXT
Sie kamen zu einem Grundstück, das Getsemani heißt, und er sagte zu seinen Jüngern: Setzt euch und wartet hier, während ich bete. Petrus, Jakobus und Johannes nahm er mit sich. Da ergriff ihn Furcht und Angst, und er sagte zu ihnen: Meine Seele ist zu Tode betrübt. Bleibt hier bei mir und wacht. Und er ging ein Stück weiter, warf sich auf die Erde nieder und betete, dass die Stunde, wenn möglich, an ihm vorübergehe. Er sprach: Abba, Vater, alles ist dir möglich. Nimm diesen Kelch von mir! Aber nicht, was ich will, sondern was du willst, geschehe. Und er ging zurück und fand sie schlafend. Da sagte er zu Petrus: Simon, du schläfst? Konntest du nicht einmal eine Stunde wach bleiben? Wachet und betet, denn der Geist ist willig, das Fleisch aber schwach. Und er ging wieder und betete mit den gleichen Worten. Mk 14, 32f
P. Dr. Jakob Mitterhöfer, Steyler-Missionar und Dekan der Hochschule St. Gabriel.