Der Herbstabend taucht die Bergkette in milde Farben. Für Reinhold Stecher bedeutet das: im Herbst des Lebens eine größere Milde zu gewinnen. In der Festschrift zur Eröffnung des Nothburgaheimes in Innsbruck schreibt er dazu:
Wenn ich an das Nothburgaheim und an die vielen anderen Senioren- und Pflegeheime denke, die ich im Bereich der DiözeseInnsbruck erlebt habe, und an die Tausenden von alten oder kranken Menschen in den Stadtwohnungen und den Bergbauernhöfen, die ich im Laufe meiner Tätigkeit besuchen durfte, dann denke ich mit großer Dankbarkeit an alle Menschen, die sich der Alten annehmen. Da ich jetzt selbst dem Achtzigsten zusteuere, tue ich es mit immer mehr einfühlender Erinnerung.
So manche Schatten bleiben
Es ist ja so, dass das Altwerden immer auch Schatten wirft, kürzere oder längere. Da gibt es die Schatten der körperlichen Defizite, die schon der Dichter des Buches Kohelet vor 2200 Jahren im Alten Testament eindrucksvoll beschrieben hat: „Es nahen die bösen Tage und Jahre, von denen du sagen wirst: Sie gefallen mir nicht. Wenn die Wächter des Hauses zittern (die Hände) und die starken Männer sich krümmen (die Beine), wenn die Müllerinnen ihre Arbeit einstellen, weil sie zu wenige sind (die Zähne), und wenn es dunkel wird bei den Frauen, die aus den Fenstern blicken (die Augen), und das Tor zur Straße geschlossen wird und das Geräusch der Mühle verstummt (das Gehör), steht man auf beim Zwitschern der Vögel, doch die Töne des Liedes verklingen (schlechter, kurzer Schlaf). Selbst vor der Anhöhe fürchtet man sich und vor dem Schrecken am Weg (alles wird anstrengend und man wird ängstlich) – der Mandelbaum blüht – doch ein Mensch geht zu seinem ewigen Haus.“
Er hat recht resignierend vom Altwerden gesprochen, der Prediger im Buche Kohelet. Unwillkürlich kommt uns zu Bewusstsein, dass der medizinische Fortschritt unserer Zeit in unseren Breitengraden doch eine Reihe dieser Defizite erträglicher gemacht hat. Ich erinnere mich dankbar an meine künstliche Hüfte, an die hervorragend gelungene Staroperation und die so wohltuende Möglichkeit zu schwimmen, wie auch an die ausgezeichnet verpasste Zahnprothese. Andere können sich in meinem Alter über einen funktionierenden Hörapparat, den Herzschrittmacher, ein mildes Schlafmittel oder die weit fortgeschrittene Schmerzbekämpfung freuen.
Wie gesagt: Der Fortschritt hat schon einige Schatten des Altwerdens verkürzt und die Lebenserwartung hinaufgeschoben. Aber so manche Schatten bleiben: das Gedächtnis lässt im Stich, der Aktionsradius wird kleiner, der Bekanntenkreis schwindet, manchmal lugt die Vereinsamung beim Fenster herein und hie und da ihre schlimmere Schwester, die Verbitterung.
Weil die Zahl der Menschen in den hohen Jahren steigt, werden Institutionen wie das Nothburgaheim immer wichtiger. Und es darf nicht nur bei der Betreuung oder Versorgung bleiben. Es muss das Leben in freundliche Räume einziehen, die Ermutigung zur Aktivität, zum Geselligen, zum Schöpferischen und Musischen. Da muss ich dem Nothburgaheim keine Predigt halten, weil ich das dort alles erlebt habe.
Chance zu größerer Milde
Das Altern hat nämlich nicht nur Schatten, sondern auch Chancen. Von meinem Balkon aus habe ich viele wunderbare Herbstabende erlebt. Der Herbstabend demonstriert mir immer die Chancen des Alters. Er hat viel mildere Farbtöne als ein Sommertag. Die Bergketten tauchen in Violett-, Lila- und Rosatöne. Und damit symbolisieren sie die Möglichkeit, im Herbst des Lebens eine größere Milde, ein geduldigeres Verstehen zu gewinnen. Man weiß um die eigene Fragwürdigkeit und das eigene Versagen und schöpft daraus die Tugend, vorsichtiger und zurückhaltender zu urteilen, vielleicht etwas gerechter zu werden. Der Herbstabend hat eine faszinierende Klarheit. Nie reicht der Blick ungehemmter zu den Horizonten, wo der Himmel die Erde berührt. Damit ist angedeutet, dass Altwerden eine religiöse Chance darstellt. Das sagt uns auch die Erfahrung des Alltags. Im Alter wird ein Wort des Buches Jesaja (46, 4) aus dem Alten Testament aktuell. Es heißt: ,,Ich bleibe derselbe, so alt ihr auch werdet. Bis ihr grau werdet, will ich euch tragen.“
Tröstliches Geheimnis
Und so gehört zum Leben des alten Menschen, zum Dienst an seinem inneren Frieden und zum Finden seiner Identität auch das Nahebringen des „tröstlichen Geheimnisses“, das in der Begegnung des Erlösers mit dem greisen Simeon aufleuchtet: ,,Nun lässt du, Herr, in Frieden deinen Diener scheiden.“